
Allerheiligen
Allerheiligen - Homilie:
Was wir als Evangelium dieses Festtages gehört haben, ist die sogenannte „Bergpredigt“ Jesu, einer der bekanntesten Texte der Bibel, mit diesen neunmaligen „Selig“, „selig sind…“, „selig seid ihr…“ Es ist nicht nur ein bekannter Text, sondern auch eine grandiose Vision. „Selig, die keine Gewalt anwenden“, „selig, die Frieden stiften“… – das ist so groß und so ungewöhnlich, dass es den meisten Menschen wie eine Utopie vorkommt. Utopie kommt aus dem Griechischen und meint: eine Sache hat keinen Topos, keinen Ort.
So erscheinen auch die Seliggepriesenen der Bergpredigt: sie haben keinen wirklichen Ort. Es fehlt ihnen die Verwirklichung. Was die Welt „predigt“, ist ja genau das Gegenteil: Selig die Gewalttäter, das heißt der Vorteil, der Erfolg liegt offenbar auf der Seite der Terroristen, der Gewaltherrscher, der Autokraten, der Diktatoren. Aber nicht nur auf den Wegen der Weltgeschichte geht es so zu. Auch in unserem Leben, auch auf der Autobahn oder wenn eine zweite Kasse im Supermarkt aufmacht, dann kommt unsere eigentliche Natur zum Vorschein: Selig die Schnellen, Rücksichtslosen, die Frechen.
Viele Menschen, vielleicht wir auch, halten die Bergpredigt für utopisch, für nicht lebbar. Wir denken vielleicht an diesen oder jenen Heiligen, der so gelebt hat, barmherzig war, Frieden gestiftet hat, ein reines Herz hatte, an Franz von Assisi, Nikolaus von Flüe, Mutter Teresa und andere. Aber das waren immer wenige, und im Normalfall, unter uns, ist es wenig realistisch, dass man mit solchem Verhalten selig, das heißt glücklich wird.
Vielleicht entschärfen wir auch vorschnell die Bergpredigt als unrealistische schöne Vision, weil wir überhören, dass sie immer an mehrere gerichtet ist. Jesus spricht seine Jünger an, die um ihn herum im Gras sitzen. „Selig, die…“ „Selig seid ihr…“ Immer ist es eine Mehrzahl, ein Plural. Es ist offensichtlich, dass für einen einzelnen diese Weisungen schwierig, vielleicht zu schwierig sind. Aber Jesus spricht seine Jünger als Gruppe an, als Gemeinschaft. Und er spricht damit in die Zukunft der Jüngerschaft, in die Kirche hinein: Dort soll es Wirklichkeit werden, dass Trauernde Trost finden. Dass diejenigen, die nichts vorzuweisen haben, die Welt Gottes erben: Fülle, Glück, Erfüllung. Dass nicht die Amtsträger und Mächtigen, sondern diejenigen, die Frieden in der Gemeinde, in der Pfarrei stiften, als die wahren Töchter und Söhne Gottes erkannt werden, als die, die das Gen Gottes in sich tragen. Die Gemeinschaft der Jünger kann der Ort sein, wo aus der Utopie Gottes ein Topos wird, ein sichtbarer Ort seiner neuen Welt, die nach anderen Regeln läuft als die Welt, die wir uns machen.
Gemeinschaft ist der Ort. Es ist kein Zufall, dass wir im Glaubensbekenntnis nicht sagen: „Ich glaube an die Heiligen“, sondern: „Ich glaube an die Gemeinschaft der Heiligen“, an die communio sanctorum. Wir glauben nicht an Heroen und Helden. Das überlassen wir den Mythen und Legenden der Völker. Wir bekennen eine Geschichte, in der es Seliggewordene gibt, einfache, durchschnittliche Menschen, schwache Menschen, die miteinander so lebten, dass man von ihnen sagen konnte: Sie sind Kinder Gottes, sie sind wie eine völlig neue Familie, nicht verwandt, nicht blutsverwandt, aber noch näher beieinander.
Das Allerheiligenfest stellt uns noch eine weitere Vision vor Augen: die Schar der Stämme Israels und eine große Schar aus allen Völkern, die den Gott Israels anerkennen. Das war das große Bild der ersten Lesung. Ein Bild für diese Gemeinschaft, die in der Bergpredigt selig gesprochen werden. Die Lesung ist aus dem Buch der Apokalypse genommen, aus dem Buch der Offenbarung des Johannes. Es ist das letzte Buch der Bibel, es steht ganz am Ende. Es wagt in Form einer Vision einen Ausblick auf das Ziel der Welt: Das Ziel der Welt ist nicht, dass sie CO2-neutral ist oder dass alle Staaten Demokratien werden oder dass alle Menschen achtsam miteinander umgehen, so wünschenswert das ist. Das Ziel ist, dass wir Jesus begegnen, dem „Lamm“, und dass wir Gott die Ehre geben, ihn als Herrn der Welt und Herrn unseres eigenen Lebens anerkennen. Das ist der Weg, wie Achtung und Friede und Versöhnung in die Welt kommen, wie alle Tränen, die über den Tod und die unsägliche Gewalt geweint werden, weggewischt werden.
In unserer Kirche ist das hier direkt über dem Altar dargestellt: Die Anbetung des Lammes, die Verehrung Gottes. Das ist über uns hingemalt, damit wir, die wir hierherkommen, das Ziel nicht aus den Augen verlieren, immer, wenn wir zusammenkommen. Wir sind nicht da, um einen „schönen Gottesdienst“ zu feiern, etwas, das uns guttut und uns in unserem wohligen Gefühl bestätigt. Das Ziel ist nicht die Kirchenentwicklung 2030, eine funktionierende Verwaltung, schöne Feiern und Sakramente für jeden. Das Ziel ist unsere Anerkennung Gottes, die Begegnung mit dem, den wir den lebendigen Gott nennen.
In der Lesung haben wir die Namen aller Stämme des historischen Israel gehört. Wir haben das heute ergänzt, denn die Liturgie hat das ausgelassen, diese Aufzählung aller zwölf Stämme Israels. Die Liturgen, die die Lesungen für die Sonntage und Feste ausgesucht haben, haben das ausgelassen aus dem Text der Bibel, weil sie vielleicht dachten, es ist langweilig, es interessiert die Leute in Hechingen nicht, wer Juda ist, Ruben, Naftali, Sebulon, Benjamin und die anderen. Es ist aber entscheidend, dass wir diese Namen kennen, damit wir merken: Dass wir Gott kennen dürfen, seine Gebote und Verheißungen, ein erfülltes Leben, das ist zu uns gekommen durch eine konkrete Geschichte. Es ist die Geschichte des jüdischen Volkes. Gerade jetzt, wo das aktuelle Israel und das heutige jüdische Volk so bedroht sind und unablässig von aller Welt kritisiert werden, ist es entscheidend, dass wir diese Geschichte als die einzige Geschichte erkennen, die uns rettet und uns hilft, zu leben. Es geht nicht um Politik. Es geht um den Weg, den Gott eingeschlagen hat, um der Welt zu helfen, um seine Ordnung bekannt zu machen, seinen Weg, recht zu leben.
Die zwölf Stämme, Israel, und die große Schar aus allen Nationen und Völkern und Sprachen, das sind wir, die Kirche. Sie spricht Deutsch, Syrisch, Polnisch, Ukrainisch, Italienisch. Sie ist der Ort, wo die Seligpreisungen wahr werden können, wenn wir Gott anerkennen, wenn wir als seine Gemeinschaft leben, einander Genossen werden, Brüder, Schwestern. Das ist unsere Berufung und unser Auftrag.
„Allerheiligen“ ist Ausdruck des Dankes, dass wirklich unzählig Viele, Große und Kleine, Bedeutende und Unbedeutende, Bekannte und Unbekannte, das in allen Generationen vor uns zu ihrer Sache gemacht haben und darin selig wurden, ein erfülltes Leben fanden. Allerheiligen heißt, dass auch wir so leben können, jeder und jede von uns, mit unserem kleinen Leben, egal ob ich Priester, Bischof oder Vater und Mutter, Unternehmerin, Arbeiter aus einem anderen Land oder Angestellte bin – wenn wir zusammen sind und zusammen Gott anerkennen, jeden Tag neu. „Jeden Tag neu“ heißt: Jetzt. Heute.
Dazu feiern wir die Eucharistie, in deren Mitte das Lamm steht, das Lamm Gottes, wie wir nachher beten, Jesus. Dann kann es unter uns Frieden geben, unter uns und so in unserer Zeit und in dieser Welt.
Allerheiligen, 1. November 2023 | Hechingen St. Jakobus | Lesungen: Offenbarung 7,2-14; 1 Joh 3,1-3: Mt 5,1-12a | Achim Buckenmaier