Bauleute Gottes
Weihnachtstag 2024 - Homilie:
Im kommenden Jahr wird in der Schweiz eine neue Staumauer am Grimsel-Stausee eingeweiht. Das ist im Berner Oberland. Ein solches Bauwerk ist ein faszinierendes Zeugnis der Bergbau- und Ingenieurskunst. In einem Artikel über diese Staumauer und ihren Bau habe ich etwas Interessantes gelesen.
Die Lage des Stausees hoch in den Alpen brachte enorme geologische und klimatische Herausforderungen mit sich. Aber nicht nur das. Eine besondere Schwierigkeit bestand darin, dass seit mehr als 30 Jahren in der Schweiz keine neue Staumauer gebaut worden war. In diesen drei Jahrzehnten war viel Know-how verloren gegangen. Die Beteiligten mussten in vielem ganz neu lernen, wie man ein solches Projekt realisiert. Erkenntnisse, die man nur durch Erfahrung gewinnen und weitergeben kann, waren nicht mehr abrufbar.
Es gehört zu den Konstanten kultureller Prozesse: Die Zeitspanne einer Generation, 30 Jahre, kann genügen, um wichtiges Wissen abbrechen zu lassen. Nicht nur Ingenieurswissen kann verloren gehen. Auch Glaubenswissen, das heißt das Wissen um das Wie eines Lebens aus dem Glauben an Gott kann verloren gehen, versinken und abhandenkommen.
Dass auch im Christentum eine solche Gefahr besteht, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
Am schnellsten sieht man es vielleicht bei solchen Festen wie Weihnachten. Wir denken, sein Inhalt wäre selbstverständlich und bekannt. Aber für viele unserer Zeitgenossen ist Weihnachten irgendeine Glitzeretappe zwischen Halloween und Fasnacht, ohne dass man weiß, warum eigentlich ein Christbaum aufgestellt wird und was man eigentlich feiern soll.
Wenn man tiefer schaut, dann sieht man, dass sich auch unter dem Jahr die Kirchen geleert haben. Was vor 50 und 60 Jahren noch selbstverständlich war, der Sonntag mit dem Gottesdienst, das ist einer neuen Religiosität gewichen, in der auch wir Christen selber entscheiden, ob dieser Termin passt oder nicht, ob man die paar Kilometer zur Sonntagsmesse fährt oder nicht.
Und auch die Kirche selbst ist zum Gegenstand beliebiger Kritik und Verachtung geworden. Sie hat vieles selber dazu beigetragen, vor allen Dingen wir, die Amtsträger. Man beurteilt heute alles, und wir werden unablässig gefragt, ob uns etwas gefallen hat oder nicht – die Buchung im Hotel, die Internetbestellung oder die Sauberkeit auf der Autobahnraststätte. Dass die Kirche ein Ort des Heils und der Gottesbegegnung sein soll, dass man an sie glauben kann als „heilige katholische Kirche“, wie wir im Glaubensbekenntnis sagen, das ist doch mehr oder minder auf dem Müllplatz unserer subjektiven Verurteilungen und Beurteilungen gelandet.
Noch vieles andere an Glauben, Wissen und Glaubenspraxis ist innerhalb von wenigen Jahrzehnten verschwunden. Und im Unterschied zu den Technikern und Ingenieuren scheint unsere Gesellschaft geradezu froh zu sein und sich von dem zu erholen, was sie als Einschränkung und als Ballast durch den christlichen Glauben empfindet.
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Warum sollte es sich also lohnen, den Faden der Geschichte nicht abreißen zu lassen, das Know-how des christlichen Glaubens nicht in die Mülltonne der Menschheitsgeschichte zu treten?
Ich möchte heute Morgen nur drei Sätze anschauen, die uns in den biblischen Lesungen des Weihnachtstags entgegenkommen.
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Das erste ist ein Wort aus dem Buch des Propheten Jesaja, das wir heute als erste Lesung gehört haben. Da tritt ein Freudenbote auf, also einer, der eine gute Nachricht bringt, keine alternativen Fakten oder Fake News, sondern eine Wahrheit. Und sie lautet für das Gottesvolk, für Zion, für Israel: „Dein Gott ist König.“
Das klingt zuerst einmal banal, ja nebensächlich. Aber es ist eine Revolution in der Menschheitsgeschichte. Wenn Gott König ist, dann ist kein König Gott, dann sind all die Pharaonen und Diktatoren und Kaiser, die sich anmaßen, Gott zu sein oder wie Gott über Menschen zu entscheiden, radikal entmachtet. Sie sind entlarvt als Menschen, die nicht mehr Rechte haben als andere.
Diese Gefahr, sich mit Mythen, mit Geld, mit politischer Macht oder der Reichweite der Social Media über andere Menschen zu stellen, sie zu beeinflussen und zu manipulieren, diese Gefahr ist nie ganz gebannt in der Menschheit. Man kann sie auch in unseren modernen Zeiten sehen. Wenn die entscheidenden Menschen „Influencer“ sind, dann werden wir aus freien Menschen zu einer beeinflussten Biomasse mit Internetanschluss, Sklaven von Trends und Mehrheiten.
Deswegen ist das Bekenntnis, dass Gott König ist über Israel, über seinem Volk, eine Grundentscheidung für Gleichheit und Freiheit, die der Menschheit durch das jüdische Volk und erweitert durch das Christentum geschenkt ist. Es gehört zu den Quellen von Demokratie und Menschenrechten. Schon das ist es wert, diese Geschichte und den Wissensfaden ihres nüchternen, herrschaftskritischen Potentials nicht abreißen zu lassen.
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Im Evangelium, und das ist der zweite Gedanke, haben wir den so genannten Prolog, also das Vorwort zum Johannes Evangelium gehört, diese große Dichtung, die mit dem Satz anfängt: „Im Anfang war das Wort.“
Auch da ist eine Grundentscheidung getroffen. Jesus ist das Wort Gottes. Wort bedeutet immer Verständlichkeit, Vernunft und Kommunikation. Damit hat der biblische Glaube von Anfang an einen rationalen, kommunikativen und vernünftigen Charakter. Glaube ich nicht Spekulation, Betäubung oder Rausch. Die Liturgie in der Kirche nimmt zwar alles auf, was an Schönem und Berührenden da ist, die Musik, die Lieder, die Bilder, den Baum, Weihrauch, einen festlichen Saal wie diese Kirche und vieles andere. Aber es dient der Verkündigung und ersetzt nicht unseren Verstand und unsere Vernunft.
Die Liturgie will uns nicht einlullen, sondern aufwecken, genau das Gegenteil. Sie will uns wach machen für die Nöte und auch für das Schöne der Welt.
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Und dann gibt es noch einen dritten Satz, auch in diesem Prolog, wenn Johannes der Evangelist sagt:
„Allen aber, die in Aufnahmen gab er macht Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut nicht aus dem Willen des Fleisches und des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.“
Kinder Gottes ist man nicht einfach. Kinder Gottes das heißt zuallererst, dass man einander Bruder und Schwester ist. Auch das ist nicht selbstverständlich. Das ist man nicht aus dem Blut, wie der Evangelist sagt. Auch damit ist in die Welt etwas Neues gekommen. Unsere Vorfahren haben ganz in der Welt der Abstammung gelebt. Bruder und Schwester konnte nur sein, wer aus demselben Stamm und demselben Blut herkommt. Alle anderen waren fremd und niemand war zu Gastfreundschaft, Solidarität oder Hilfe ihnen gegenüber verpflichtet. Heute ist es vielleicht auch der Rückzug auf das Glück der eigenen kleinen Familie, der die Einsamen und die Alten einfach übersieht und vergisst.
Der biblische Glaube hat diese genealogische Engführung auf den Clan und die Nationalität aufgebrochen und hat uns die anderen Menschen als Brüder und Schwestern gezeigt. Auch das ist nicht selbstverständlich, und immer wieder kehrt die Gefahr zurück, dass Blut und Boden die entscheidenden Kriterien sind, ob ich im anderen Menschen einen Bruder oder eine Schwester sehe. Auch deswegen lohnt es, an dieser Geschichte anzuknüpfen, die in Israel begonnen hat, mit dem Gebot, die Fremden zu achten und eine Gesellschaft des Rechtes und der Solidarität zu bauen. Der Glaube der Christen hat das Enge der Scholle, der Heimat und der Nation überwunden. Als sich die Kirche dennoch mit dem Staat und den Kaisern verbunden hat, hat sie sich auch an deren Grenzen gebunden, und war vor allem im 20. Jahrhundert selbst dem Nationalismus ausgeliefert und hatte keine Kraft, den zerstörerischen Kräften, die daraus erwuchsen, zu wehren.
„Nicht aus dem Blut, sondern aus Gott geboren“ – auch das ist ein Glaubenswissen aus der Geschichte von Juden und Christen – Familie Gottes statt Clan, Menschen, statt Feinde –, das es lohnt, bewahrt und weitergegeben zu werden als etwas, das nicht selbstverständlich ist.
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Wenn wir noch einmal zum Bild des Schweizer Staudamms zurückkehren, dann sehen wir, dass der Abbruch von Wissen und Erfahrung keine Kleinigkeit ist. Wir werden aber im kommenden Jahr Gelegenheit haben, mit dieser Sache ernst zu machen. Da ist zum einen das Heilige Jahr, das Papst Franziskus in der gestrigen Nacht begonnen hat. „Pilger der Hoffnung“ hat er es überschrieben.
Egal, ob man nach Rom fährt oder nicht, wichtig ist, dass wir wirklich Pilger der Hoffnung sind, dass auch unser Denken pilgert, dass wir uns auf das Abenteuer des Denkens und der Theologie einlassen, das heißt auf das gesammelte Erfahrungswissen, dass die Kirche hat.
Die Kirche verspricht nicht, dass man alles weiß und alles kann, aber sie bietet jeder Generation neu dieses Wissen an, damit sie es sich aneignen und weiterführen kann in die Zukunft. Alle 25 Jahre ein Heiliges Jahr, das ist auch ungefähr immer eine Generation lang, damit nicht abbricht, warum wir glauben und was wir glauben. Dieses Wissen, dass es gut ist, dass wir Christen sind und miteinander sind.
Und das Zweite, das im Jahr 2025 kommt: Es ist das Jubiläum des Konzils von Nizäa, des ersten großen Konzils der Kirche, das im Jahr 325 stattfand. Das Konzil hat im Wesentlichen das Glaubensbekenntnis formuliert, das wir heute als das große Credo kennen und beten.
Auch das ist ein Anlass, das Wissen des Glaubens nicht versackern zu lassen in dem dürren Boden der Gewohnheit und all der Wichtigkeiten, von denen man denkt, dass sie in der Kirche entscheidend sind. Die besten Pläne helfen nichts, das war die Erkenntnis am Grimselsee, wenn nicht Menschen ihr Wissen und ihre Erfahrung weitergeben von Person zu Person. Dass Jesus nicht nur ein beeindruckendes Vorbild ist, ein freundlicher Prediger der Ethik, des Teilens und des guten Lebens, sondern der definitive Bote Gottes, der Sohn, Gott, und wir als Getaufte in eine Nachfolge gerufen sind, nicht in eine Zuschauerrolle, das können wir nur durch unser Leben zeigen und seine Wahrheit erkennen. Nur dann, wenn wir Jesus als Sohn Gottes und Herrn glauben und bekennen, dürfen wir ihm unser Leben anvertrauen.
Und so erzählt Weihnachten zwar eine Kindheitsgeschichte, aber keine Kindergeschichte. Die Geschichte des kleinen Kindes in Bethlehem erzählt die Geschichte Gottes. Gott setzt auf das Kleine, die geringe Zahl, die Wenigen, die aber eine große Verantwortung haben: W i r sind die Bauleute und Ingenieure Gottes. W i r sind zuständig dafür, dass die Wasser der Gewalt, Menschenverachtung und der Irrationalität unsere Welt nicht überfluten. Wir haben die Verantwortung für die Welt und den Frieden in ihr. Wir sind gefragt, das Heilwissen Gottes nicht abreißen zu lassen – nicht durch Bücherlesen und Träumen von einer besseren Kirche, sondern dadurch, dass wir da sind und treu sind. Dadurch dass wir Nachfolger Jesu sind, follower der einzig entscheidenden Sache der Welt. Und genau diese Teilhabe bringt auch uns selbst, jedem und jeder von uns, wie die Engel sagen, „große Freude“ und vor allem „Frieden“. Mehr kann es nicht geben.
Weihnachten am Tage, 25. Dezember 2024 | Hechingen St. Jakobus | Lesungen: Jes 52,7-10; Hebr 1,1-6,; Evangelium: Joh 1,1-5.9-14 | Achim Buckenmaier