
In den Himmel kommen?
Homilie zum zweiten Fastensonntag - In der frühen Kirche, in den ersten drei, vier Jahrhunderten, war die Zeit vor Ostern die letzte Etappe der Vorbereitung für alle Erwachsenen, die sich für die Taufe angemeldet hatten. Drei Jahre lang lernte man nicht nur die Lehre, sondern vor allem das Leben als Christ kennen, indem man in einer christlichen Gemeinde mitlebte. Heutzutage muss man mehr Zeit investieren, wenn man den Führerschein erwerben will, als wenn man Christ werden möchte. Am Ende der drei Jahre stand die Zeit vor Ostern, die vierzig Tage. Und an den Sonntagen der Fastenzeit wurden den Kandidaten noch einmal die Essentials des christlichen Glaubens vor Augen gestellt wurde. Eine Art Crashkurs sozusagen, um noch einmal zu verstehen, auf was man sich einlässt mit der Taufe. Das merkt man an den fünf Fastensonntagen an den biblischen Texten. Sie bieten immer zentrale Stellen aus der Geschichte Israels und Jesu. So ist es auch heute.
Heute geht es nicht nur um Jesus allein. Drei große Gestalten des Alten Testaments begleiten ihn sozusagen in der Liturgie: Mose und Elija im Evangelium, das wir gerade gehört haben, und Abraham, der im Zentrum der ersten Lesung stand.
Das erste der Hochgebete der Messe nennt Abraham „unseren Vater“. Abraham ist nicht nur eine Gestalt des Judentums, des Alten Testaments. Er ist unser Vater, nicht Hermann der Cherusker, ein legendärer Stadtgründer Hacho oder sonst ein Häuptling der germanischen Stämme, auch nicht Bismarck oder sonst einer. Abraham ist „unser Vater“. Warum?
Abraham lebte im Zweistromland, dem heutigen Irak. Er lebte inmitten einer Religion, in der Sonne, Mond und Sterne als Götter verehrt wurden, Könige und Herrscher als Göttersöhne galten, in der das Leben vom Schicksal unberechenbarer Mächte beherrscht war, in der alles auf ein dubioses Jenseits konzentriert war, um die niederen Menschen, die Armen, die Untertanen in ihrem elenden, unfreien Leben zu vertrösten.
Abraham, so erzählt es die Bibel, – und man muss nicht zweifeln, dass es einen solchen Menschen gab – war der erste, der dieses System durchschaut hatte, und auch erkannte, dass er aus dieser Gesellschaft weggehen musste, wenn er anders leben wollte, wenn er frei sein wollte, in diesem Leben, nicht irgendwann einmal nach dem Tod, in einem vermeintlichen Jenseits.
Deswegen erzählt die erste Lesung, dass er einen Ruf hörte: Zieh weg, verlass dein Vaterhaus, deine Verwandtschaft, deine Heimat. Ich zeige dir ein anderes Land. Abraham ist nicht im Inneren ausgezogen, nicht geistig, innerlich, sondern konkret. Ein Migrant vor fast viertausend Jahren, zusammen mit seiner Frau Sara, mit Terach, seinem Vater, mit Lot, seinem Neffen. Die Bibel erzählt diesen Auszug deswegen auch sehr realistisch. Was Abraham alles passiert unterwegs, wie er als Halbnomade mit seinen Viehherden Brunnen suchen muss, sich mit anderen Nomanden einigen muss, wie er ein Stück Land kauft, als Sara stirbt, damit er sie begraben kann, wie die Verhandlungen um das Grundstück abliefen, wieviel Geld er gezahlt hat usw.
Das alles musste passieren, damit Abraham zum Glauben an den wahren Gott kam, damit er ihn entdeckte. Das war nicht im Herzen oder sonst wo im Inneren, sondern in der Welt. Und wir können sagen: Das alles hat es gebraucht als eine Geschichte, damit es Jesus geben konnte und damit es uns geben kann als Christen, als Kirche. Darum: „Abraham, unser Vater.“
In den vielen Jahrhunderten der Kirche haben wir Christen das immer mehr vergessen. Unsere Wurzeln in der Geschichte Abrahams und des jüdischen Volkes haben wir oft wie abgeschnitten, ignoriert, vergessen. Und dadurch haben wir diese Welt Abrahams vergessen, die Welt überhaupt. Im Bewusstsein vieler Christen wurde der Glaube eine Sache des Jenseits, eine Art Weltanschauung, eine Idee, ein Weg – wenn man es platt sagt – „wie man in den Himmel kommt“, eine Sache des Herzens, der privaten Seele, eine spirituelle Sache.
Immer wieder bin ich überrascht, wie sehr das verbreitet ist. Wenn man der Verstorbenen gedenkt oder bei Beerdigungen oder auch sonst kommt das oft vor. Ich höre diese Fragen oft, und dann wird heftig darüber diskutiert: Wer kommt in den Himmel? Nur die Christen? Nur die Guten? Aber liebt Gott nicht doch alle? Wenn aber Gott einfach so allgemein barmherzig mit allem und allen ist: Was ist aber dann mit den Übeltätern, den Verbrechern der Weltgeschichte, und mit den Opfern, mit den um das Leben Betrogenen? Sitzen dann die Opfer neben ihren Mördern? Alle einfach im Himmel?
Für Abraham, Mose und Elija wären das sinnlose Fragen gewesen, heidnische, lächerliche Fragen. Zeitverschwendung. Sie spielten tausend Jahre in Israel keine Rolle. Das Volk Abrahams hatte verstanden, dass der Glaube an Gott bedeutet, sich um diese Welt zu kümmern. Zu allem anderen können wir nur vertrauen darauf, dass es Gott gibt, den Schöpfer Himmels und der Erde und den Herrn der Welt. Ihm überlassen wir alles. Abraham hat ihn als erster erkannt und Gott hat sich ihm, wie wir sagen, offenbart. Er hat vor allem seinen Willen offenbart, das heißt seinen Plan, seine Regeln, wie wir auf dieser Welt frei, gerecht und in Frieden miteinander leben, was wir tun müssen dazu und was wir sein lassen müssen. Das ist die Welt, wie Gott sie will und wie sie das Beste für uns ist. Dann wird die Welt Welt Gottes.
Jesus hat genauso gedacht. Als ihn seine Jünger baten: Sag uns, wie wir beten sollen, hat er ihnen das Vater Unser vorgesagt. Und darin betet er nicht: Lass mich in den Himmel kommen. Sondern: Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Das ist gerade die umgekehrte Richtung wie unsere billigen und unnützen Diskussionen. Es ist das umgekehrte Denken.
„…wie im Himmel, so auf Erden.“ So wie Gott es will, soll es hier sein. Darüber müssen mir Christen sprechen und unsere Vernunft und unseren Mut dafür einsetzen. Wie leben wir gerecht, solidarisch, in Frieden, obwohl wir von Natur aus neidisch, zänkisch, unzufrieden sind? Was machen wir mit unseren alten Menschen heute? Verstecken und vergessen wir sie in den Heimen? Wie erziehen wir die Kinder? Was geben wir ihnen, was nicht? Wie sehen unsere Häuser und Wohnungen aus, unsere Kirchen, Gemeindehäuser? Sind sie verkommen, vernachlässigt oder zeigen sie etwas von der Schönheit des Glaubens? Wie gehen wir mit dem Geld um? Mit unserer Sexualität? Mit unseren Sehnsüchten? Mit der Angst vor Krankheit? Mit den eigenen gesundheitlichen Problemen und denen unserer Brüder und Schwestern? Alles das ist der Ort, wo sich der Glaube entscheidet, oder es gibt ihn nicht.
Was das Leben der kommenden Welt angeht, gibt es nur eines, was wir wissen und worauf wir vertrauen: Gott hat Jesus, seinen Boten, aus dem Tod erweckt, nicht scheitern lassen. Er hat ihn ins Recht gesetzt und so wie eine Tür zur Welt Gottes, zur Ewigkeit, zur kommenden Welt aufgetan. Aber durch diese Tür gehen wir nur, wenn wir die kommende Welt in unsere Welt hereinkommen lassen. Wir müssen nicht über das ewige Schicksal spekulieren, weder über unseres noch über das von anderen.
Im Evangelium sagt die Stimme aus dem Himmel zu Petrus, Jakobus und Johannes über Jesus: „Das ist mein geliebter Sohn – auf ihn sollt ihr hören.“ Auf ihn sollt ihr hören. Die Stimme sagt das auch zu uns heute: Jesus ist der geliebte Sohn. Auf ihn sollen wir hören.
Mit Abraham, Mose und Elija hören wir ihn heute uns sagen, um was wir uns Gedanken und Sorgen machen sollen, um was wir Gott wirklich bitten sollen: Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.
Zweiter Fastensonntag A – 4./5. März 2023 - Sickingen St. Antonius | Hechingen St. Jakobus | Jungingen St. Silvester - Lesungen: Gen 12,1-4a; 2 Tim 1,8b-10; Evangelium: Mt 17,1-9 - Achim Buckenmaier