
Ist der Gottesdienst vernünftig?
22. Sonntag im Jahreskreis A - Homilie:
Die heutige zweite Lesung aus dem Brief des Paulus an die römische Christengemeinde führt uns fast zweitausend Jahre zurück an den Anfang der Kirche. Paulus verbrachte den Winter der Jahre 55/56 nach Christus in der griechischen Stadt Korinth und bereitete sich auf seinen Besuch in Rom vor, wo es schon eine kleine Gemeinde von Jesus-Jüngern ab, die er aber nicht kannte. Deswegen schreibt er einen längeren Brief nach Rom, um sich quasi vorzustellen, aber nicht sich als Person, sondern den Auftrag, die message, die ihm anvertraut ist, man könnte auch sagen: seine Theologie. Seine Weise, auf Jesus, auf Gott, die Geschichte und den Menschen zu schauen. In diesem kleinen Ausschnitt, der heute die Lesung bildet, ist das bemerkenswerteste Wort das Wort vom „geistigen Gottesdienst“. Paulus schreibt – wir haben es gerade gehört:
„Ich ermahne euch, Schwestern und Brüder, kraft der Barmherzigkeit Gottes, eure Leiber als lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen – als euren geistigen Gottesdienst.“
Ich möchte die Gelegenheit nützen, dieses eine Wort vom „geistigen Gottesdienst“ aufzugreifen und heute einmal nach dem Wesen und der Gestalt unserer Gottesdienste zu fragen. Das Wort „geistiger Gottesdienst“ hat es in sich. Was im Deutschen so ein bisschen langweilig daherkommt, ist die Übersetzung des griechischen Ausdrucks logikē latreia. Paulus schrieb ja griechisch.
Logikē latreia. Auch der, der nicht griechisch kann, hört darin das Wort Logik. Es begegnet uns im Wort „logisch“ oder auch in der „Logistik“. Der christliche Gottesdienst ist also „logisch“, hat mit Logik zu tun. Der christliche Gottesdienst ist Gottesdienst als Opfer- und Mahlfeier Jesu, des Logos, des Wortes. Er ist also logos-gemäß, vernünftig, vernunftgemäß. Was aber heißt das?
Der Gottesdienst, den wir feiern, hat seine Wurzeln im Gottesdienst Israels, im Gottesdienst des jüdischen Volkes. Die Eucharistie, die wir feiern, die Messe, geht auf das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern zurück. Es war ein Pessachmahl, ein Mahl zum Gedenken und zur Vergegenwärtigung des Exodus, des Auszugs Israels, der dramatischen Flucht aus Ägypten, aus einer Sklavenexistenz. Ich möchte in Kürze nur fünf Eigenschaften, fünf Charakteristika der jüdischen Liturgie nennen, die auch in unseren Gottesdienst eingegangen sind:
1. Das erste ist: Israel hat in seinen Gottesdiensten im Tempel Tieropfer dargebracht. Das war in der Antike üblich. Nicht üblich war aber, dass die Liturgien und Feste in Jerusalem und später in den Synagogen immer auch mit der Erinnerung an eine bestimmte Geschichte verbunden waren, an wichtige geschichtliche Ereignisse im Leben des Volkes Israel: den Exodus eben, den Auszug, oder die Gabe der Tora, der Gebote Gottes am Sinai. Deswegen kamen zum Opfer und zum Mahl immer auch Erzählungen, Berichte, Deutungen der Geschichte hinzu. Opfermahl und Wort – das gehörte zusammen. Man hat nicht nur gefeiert, man hat nicht nur Gefühle, Empfindungen, Gebete und Wünsche geäußert. Der Gottesdienst hat immer auch Vernunft gebraucht, Zuhören, Verstand, Verstehen, logisches Denken, um die Geschichte zu verstehen. Nicht nur Opfer, sondern auch das Wort.
2. Das führt schon zum zweiten: Die antiken Religionen kannten besondere Personen, Priesterinnen und Priester, die die Opfer für die Götter darbrachten, die über ein bestimmtes geheimes Wissen verfügten, das das gemeine Volk nicht hatte, die eingeweiht waren. Geheimnisse, die sie hüteten. In Israels Liturgie und Fest war das immer öffentlich. Es wurde immer laut vorgelesen. Wenn von den Teilnehmern an den Festen Israels die Rede ist, wird oft gesagt: Es waren dabei „Männer und Frauen und alle, die es verstehen konnten“, also auch Jugendliche und Kinder, sobald sie ein wenig verstehen konnten. Das gab es in der Antike nirgends sonst, diese Öffentlichkeit. Das war im Grunde eine Art der Demokratisierung der Liturgie. Da war nicht mehr ein Spezialwissen. Was gefeiert wurde, was getan wurde, war allen zugänglich, denn jeder sollte daran beteiligt sein, Gott zu loben und ihm zu danken für diese Geschichte. Denn auch sein Leben war gerettet, bewahrt, ausgezeichnet durch diese Geschichte Gottes mit seinem Volk. Öffentlich. Für alle. Das ist das zweite Stichwort.
3. Das dritte: Viele antike Religionen konzentrierten sich auf die Familie. Die Römer zum Beispiel hatten alle in ihren Häusern Statuen mit kleinen Schutzgöttern, die Penaten. Andere Religionen haben kleine Hausaltärchen für die Ahnen. Israel hat auf die große Gemeinschaft gesetzt, auf das Volk, das dreimal im Jahr nach Jerusalem zu den großen Festtagen gepilgert ist. So wird es ja auch im Neuen Testament erzählt von Maria und Josef, die den kleinen Jesus mitnehmen nach Jerusalem. Die einzelne Familie war eingebettet in eine große Solidargemeinschaft. Gottesdienst war nicht primär private, individuelle Andacht und Erbauung, sondern Versammlung. Liturgie als Versammlung und Gemeinschaft zur Ehre Gottes.
4. Das ist auch das vierte Merkmal des jüdischen Gottesdienstes: Verehrung Gottes, Anbetung Gottes. Die Religion im allgemeinen, menschlichen Sinn verehrt Götter, aber letztlich sind sie nur Personifizierungen von menschlichen oder natürlichen Kräften und Wünschen: die Göttin der Fruchtbarkeit, die Erde als Göttin, der Gott des Krieges, ein Gott für Regen oder Handels, einer des Meeres und so fort. Israel hat alle Statuten weggelassen, alle Bilder. Im Tempel in Jerusalem war nur die Lade mit den zwei Tafeln der Gebote, und als diese einmal von Feinden erbeutet worden waren, war gar nichts mehr dort. Die Liturgie wollte helfen, nichts anzubeten außer den unsichtbaren, wirksamen, einen Gott. Nicht einen Menschen, auch nicht eine Gruppe von Menschen, die sich selbst feiern, sondern nur Gott. Anbetung heißt: Gott in der Mitte der Liturgie, nicht eigene Wünsche und Projektionen.
5. Und zuletzt: Liturgie und Kult, Feiern und Opfer können auch Selbstzweck werden. Dann denkt man, man betet Gott an, wenn man lange betet, wenn man viel Aufwand betreibt, wenn man berührt und gerührt ist. Als Mose in Ägypten den Pharao bat, die Juden in die Wüste ziehen zu lassen, um dort seinen Gott anzubeten, hat ihm das der Pharao zum Teil erlaubt: „Geht und opfert eurem Gott hier im Land.“ Aber Mose bestand darauf, dass zur Verehrung des wahren Gottes der Exodus gehört, der Auszug. Dieser Gott will die Freiheit des Menschen. Die Verehrung Gottes will kein Opium des Volkes sein. Zur wahren Liturgie gehört ein freies, menschenwürdiges Leben. Der wirkliche Gottesdienst ragt in das Leben hinein. Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit gehören zur Anbetung Gottes, sonst ist sie Götzendienst. Das fünfte Kennzeichen ist also: Der Gottesdienst bedeutet eine andere Art zu leben.
Ich glaube, ich brauche jetzt nicht mehr viel sagen über unseren Gottesdienst, warum auch unser Gottesdienst, jeden Sonntag, jeden Werktag, logikē latreia, vernunftgemäßer Gottesdienst ist und sein soll. Diese fünf Merkmale gehören auch zum christlichen Gottesdienst:
- Das Wort und sein Verstehen: Der Gottesdienst vermittelt uns durch die Schrifttexte, aber auch in den Gebeten, im Hochgebet ein Wissen, was der Glaube ist, was unsere Geschichte ist, die „Heilsgeschichte“. Gottesdienst ist nicht Zauber, Abrakadabra, Magie, Emotion, Rausch, sondern Verstehen der Geschichte und dadurch Ergriffen- und Berührtsein.
- Öffentlichkeit: in der Liturgie wird keine Geheimniskrämerei betrieben, keine Esoterik für ein paar Eingeweihte. Nach der Wandlung wird sogar das „Geheimnis des Glaubens“ öffentlich genannt: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir…“ Jeder und jede, die glaubt und mit der Kirche lebt, jeden Sonntag an ihrer Versammlung teilnimmt, kann verstehen. Und es ist immer ein Wir, das da spricht. Und es ist für jeden zugänglich. Um die Messe zu verstehen, im Tiefen, muss man weder seit Geburt an katholisch sein, noch zehn Semester Theologie studiert haben. Jeder und jede ist daran beteiligt. Partizipativ ist nicht, dass möglichst viele etwas machen oder sagen, sondern dass alle ganz dabei sind.
- Anbetung Gottes: Jede Messe ist Anbetung Gottes, auch jeder Wortgottesdienst. Es geht nie nur um uns, auch bei der Beerdigung nicht nur um den Toten, bei der Trauung nicht nur um das Paar, bei der Taufe nicht nur ums Kind, bei der Weihe nicht um den Priester. Gottesdienst ist kein Stuhlkreis, wo wir fragen, wie es uns jetzt gerade geht und „was das jetzt mit uns macht“ und ob es uns „gut tut“. Alles Persönliche und Menschliche ist gerade dann aufgehoben und erhoben und wird gut, wenn wir uns vor Gott stellen.
- Und zuletzt ist eben die Frage im Raum, ob der Gottesdienst hier gedeckt ist von einem gemeinsamen Leben. Ob es uns genügt, dass wir ein bisschen Stimmung und seelischen Aufbau abholen, oder ob das Mahl und die Anbetung Gottes gedeckt sind von einer Erfahrung und einem Ringen um Gemeinschaft. Ob wir uns vorher und nachher nur um uns kümmern und sorgen, isoliert herkommen und isoliert weglaufen, oder ob wir in der Kommunion – zu deutsch: Gemeinschaft – Hostie undLeben teilen.
Paulus hat uns heute Abend/heute Morgen mit diesem Wort vom „geistigen Gottesdienst“ jedenfalls die Tür weit aufgemacht, um zu verstehen, was wir gerade tun.
22. Sonntag im Jahreskreis A, 2./3. September 2023 | Burladingen St. Fidelis; Hechingen St. Jakobus | Lesungen: Jer 20,7-9; Röm 12,1-2; Evangelium: Mt 16, 21-27 | Achim Buckenmaier