Jesus ganz anders kennenlernen

Homilie zum Ostersonntag 2023 - 

Am vergangenen Palmsonntag wurde die Jesus-Ausstellung am Marktplatz eröffnet. Sie will Menschen innerhalb und vor allem außerhalb der Kirche helfen, einen Blick auf Jesus von Nazareth zu werfen. Gegenstände, Zitate, Photos und verschiedene Veranstaltungen helfen dazu. In der Zeitung war der Bericht über die Eröffnung der Ausstellung mit dem Satz überschrieben: „Jesus ganz anders kennenlernen.“ Das trifft die Sache ganz gut. „Jesus ganz anders kennenlernen.“ Jesus Christus, den Fixpunkt unseres Glaubens, neu kennenzulernen, sein Leben, seine Botschaft, sein Anliegen, sein Menschsein, vielleicht jenseits dessen, was wir uns immer wieder vorstellen und wünschen.

Und damit hat diese Initiative der Ausstellung etwas ins Zentrum gerückt, was zu Ostern gehört, nämlich die Person Jesu von Nazareth. Die Kartage fokussieren sich darauf. Gerade am Palmsonntag und Karfreitag mit den langen Passionserzählungen ist der Blick auf die Person Jesu gerichtet, auf seine Worte, sein Reagieren und  Agieren, auf die letzten Tage seines Lebens. Damit sind diese Tage eine stille Korrektur des Missverständnisses, dass es im Glauben der Christen um eine Morallehre, eine Ethik, eine Idee oder Weltanschauung gehe. Das alles gibt es – Gott sei Dank – bereits in der Welt. Der Glaube der Christen, unser Glaube ist zuallererst eine Begegnung mit einer Person, mit der Person, dem Juden Jesus. 

Aber wer ist er? Was war er? Was waren seine Anliegen?

Seit mehr als zweihundert Jahren gibt es den Versuch, Jesus nicht nur als den geglaubten Christus zu kennen, sondern die historische Person des Jesus aus Nazareth zu finden. Unzählige Theologen haben sich seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert in der Bibelwissenschaft daran gemacht. Sie haben nicht nur die Bibel durchgelesen, die vier Evangelien miteinander verglichen, sondern auch literarische Quellen außerhalb des Neuen Testamentes erforscht und kulturelle Umstände studiert. So ist zum einen unser Wissen über Jesus und seine Zeit enorm angewachsen, zum anderen ist aber auch etwas Merkwürdiges passiert: Am Ende der Forschungen stand nicht ein klareres Bild Jesu, sondern es traten verschiedene Bilder seiner Person zu Tage. Jesus als Wundertäter und Heiler. Jesus als Lehrer einer neuen radikalen Ethik der Liebe. Jesus als den Verkünder der umfassenden Barmherzigkeit Gottes. Jesus als jüdischer Rabbi. Jesus als Sozialrevolutionär und anderes mehr. 

Albert Schweitzer, der große protestantische Theologe und Urwaldarzt zog am Anfang des 20. Jahrhunderts eine ernüchternde Bilanz dieser Forschungen. Er zeigte, dass sich in den verschiedenen Bildern von Jesus vor allem die Vorstellungen der unterschiedlichen Theologen widerspiegelten. Die liberalen Theologen fand darin den Prediger der Moral wieder. Die politisch orientierten den Reformer. Die sozial empfindenden den barmherzigen Heiland.

Und es ist klar: die Forschung, die Bibelkritik, die historische Theologie kann sich immer nur auf das beziehen, was man von der geschichtlichen Person Jesu wissen kann oder was man eben hineinvermutet.

Mit dem, was wir heute feiern – die Auferstehung Jesu – kann historische Betrachtung nichts anfangen. In der Welt des rationalen Denkens mit ihrer Kenntnis von Biologie und Physik, mit ihrer Medizintechnik muss die Auferstehung der Toten als ein Märchen erscheinen, eine mythologische Erzählung, Rest eines unaufgeklärten Weltbildes, als Erfindung der Jünger, um die verlorene Sache Jesu und ihre gescheiterten Leben doch noch zurecht zu biegen.

Nicht umsonst haben die Evangelisten an keiner Stelle von den Details der Auferstehung erzählt. Wie das genau geschah, was da geschah, wie ein Toter wieder lebendig wird und zugleich ganz anders wird, nicht einfach weiterlebt wie vorher – zu all dem sagen die Evangelien keinen einzigen Satz.

Nur von einer Sicherheit sind sie durchzogen: Dass sich etwas ereignet hatte: Ein Erkennen, ein Wiedererkennen, eine Begegnung und Berührung mit Jesus, aber ganz neu, die nicht erwartbar gewesen war. Es war so überraschend, dass die Frauen wie Maria aus Magdala – wie es das heutige Evangelium erzählt – auch zuerst verwirrt sind und denken, man hätte den Leichnam in der Nacht doch noch irgendwo anders hingebracht. Es war so unerwartbar, dass in den Ostergeschichten der Auferstandene mehrfach sagen muss. Fürchtet euch nicht…

Sicher ist also, dass aus dieser einen Nacht des Jahres 30 oder 33 eine Bewegung entstand, die in wenigen Jahrzehnten nicht nur das Heimatland Jesu und sein Volk, das jüdische Land, sondern das ganze Römische Reich erfasste. Faktum ist, dass damit die Geschichte und die Lebensweise Israels in einer Weise in die Welt kam, wie es zwar in der Torah angelegt, aber nicht wirklich in die Völker hineingedrungen war. Sie wurde getragen von gläubigen Juden und bald auch von Nichtjuden. Sie wurden zu einer Gemeinschaft, über die die Welt staunte. Ihr Leben, so durchschnittlich es war, war wie in ein neues Licht getaucht. Sie begründeten das so: „Der Herr ist von den Toten auferstanden!“

Das Herzstück dieser neuen Sache waren nicht Bücher und Lehren und Aufforderungen, besser und anständiger zu leben. Das Herzstück war, dass die Christen immer wieder zusammenkamen und in diesen Versammlungen ihr Leben unter die Gebote Gottes ordneten und miteinander verbanden. Das gemeinsame Mahl war die freudige Mitte, weil sie alle daran erinnerte, dass jeder und jede unverdient berufen war, dass der Dank der neue Grundton ihres Lebens geworden war. So umwerfend und beglückend war dieses Neue, dass es bis heute alle Epochen überlebt hat. 

Zugleich ist es immer wieder gefährdet. Wenn wir diesen „anderen Jesus“ vergessen, der auferstanden ist und seine Jünger, Männer und Frauen, sammelt und zu einer Gemeinschaft formt, wenn wir nur unseren eigenen Jesus kennen, dann suchen wir andere Wege als die Kirche, suchen ihn in Meditationen, Selbstfindungskursen, Aktionen, der stillen Vereinzelung oder sonst etwas.

Die Ostergeschichten des Neuen Testamentes sind dagegen sehr viel nüchterner: Sie sprechen davon, dass die Jünger aus der Zerstreuung wieder zusammen kamen, dass sie dann beieinander blieben, Woche für Woche, Sonntag für Sonntag, und dass sie Mahl gehalten haben, gegessen und getrunken haben, die Schriften Israels gelesen haben und so Jesus tatsächlich anders, neu kennenlernten: als den Auferstandenen, denjenigen, auf den es allein ankommt, weil er uns den Weg zu Gott aufmacht, als das Heil der Welt, den Erlöser der Welt.

Anders wird diese Erkenntnis auch heute nicht in der Welt präsent sein. Nicht Diskussionen, Handlungs- und Orientierungstexte, nicht Kirchenentwicklungsprojekte und Strukturreformen – so richtig das eine oder andere ist – werden helfen, sondern nur das, was die Jünger taten: dass wir immer wieder zusammen kommen, beieinander bleiben, Woche für Woche, Sonntag für Sonntag, dass wir Mahl halten, essen und trinken, die Schriften Israels lesen, unsere Leben eng miteinander verbinden und deswegen mit Freude und Dank leben.

„Jesus anders kennenlernen“ – das ist wirklich ein österliches Programm. Die Eucharistie, die wir jetzt feiern, ist der privilegierte Ort dieses Erkennens. „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ ist die Anleitung Jesu dazu. Wenn wir hier sind, werden auch alle anderen Orte in unserem Leben, eine Ausstellung, eine theologische Bildung, ein karitativer Dienst Orte der Kenntnis und der Begegnung mit dem „anderen Jesus“, dem Christus, dem Auferstandenen, dem, der unserem Leben die entscheidende Richtung gibt.

Ostersonntag, 9. April 2023 | Hechingen St. Jakobus  |  Lesungen: Apg 10,34a.37-41; Kol 3,1-4; Evangelium: Joh 20,1-9  |  Achim Buckenmaier