Lessings Problem

Homilie zum 5. Sonntag im Jahreskreis A  -  

Wir kommen heute hierher zum Gottesdienst und wir bringen natürlich unsere ganze Woche mit, unser Leben, den beruflichen Stress vielleicht, Sorgen um die Gesundheit oder die Kinder, Auseinandersetzungen, Freuden und anderes mehr… alles, was uns so in unserem kleinen Leben beschäftigt. Mit dem Wort vom „Licht der Welt“, das uns im Evangelium begegnet und vom Licht, das uns im Dunkeln aufgeht, wenn wir recht handeln, wie es der Prophet Jesaja sagt, mit diesem Wort „Licht“ geht unser Blick aber über uns hinaus, über unser Familiäres und Privates hinaus. Wir begegnen unserem Auftrag als Christen, der gerade nicht an den Grenzen der Familie Halt macht, sondern die Verantwortung für die Welt, für die anderen Menschen, in Blick nimmt: Licht der Welt sein. Salz der Erde sein.

Noch deutlicher wird dieser Auftrag im Spiegel des ersten Briefs des Paulus an die Gemeinde in Korinth in Griechenland, unsere zweite Lesung. Paulus muss sich offensichtlich etwas rechtfertigen für seine Verkündigung, für die Art, wie er diese Gemeinde gegründet und gesammelt hat. Man spürt das zwischen den Zeilen, wenn er schreibt:

„Meine Botschaft und Verkündigung war nicht Überredung durch gewandte und kluge Worte, sondern war mit dem Erweis von Geist und Kraft verbunden.“

Was bedeutet das, seine Verkündigung sei „mit dem Erweis von Geist und Kraft verbunden“ gewesen? „Erweis“ ist nicht genau Beweis, aber auch nicht nur irgendeine Behauptung. Dass sich etwas erwiesen hat, meint, es hat sich gezeigt, es hat sich bewahrheitet. Paulus sagt also, dass sich in seinem Reden und Tun deutlich wird, dass es der Geist Gottes und die Kraft Gottes ist, die hier am Werk sind. Mit dem Wort vom „Erweis von Geist und Kraft“ begegnen wir aber auch einem Stück Zeitgeschichte und Geistesgeschichte, das unsere Kultur und Welt stark geprägt hat, auch wenn es uns nicht bewusst ist. 

Im 17. Jahrhundert, also vor vierhundert Jahren, begann in Europa eine Bewegung und Zeit, die man die Epoche der Aufklärung nennt. Im Englischen wird diese Sache „Enlightenment“ genannt. Da steckt Light drin, also Licht. Aufklärung ist eine Art zu denken, das das, was um uns ist, transparent, verstehbar werden lässt. Dass man nicht im Dunkeln von Aberglauben und Mythen und Ängsten bleibt, sondern seinen Verstand benutzt, seine Vernunft, klarsieht und alles mit dem Kopf verstehen will. 

In Deutschland ist diese Bewegung der Aufklärung vor allem mit dem Namen des Philosophen Gotthold Ephraim Lessing verbunden. Er lebte im 18. Jahrhundert. Lessing trieb die Frage um:

Wenn wir nun mit unserer Vernunft alles erklären wollen und alles durchdringen und verstehen wollen, und nur noch das gilt, was wir mit unserem Kopf gelten lassen können, was ist dann mit dem Glauben an Gott? An seine Existenz, die ich ja nicht in einem Labor nachweisen kann? Was ist dann mit den Wundern, also gerade den Dingen, die sozusagen außerhalb der natürlichen Zusammenhänge passieren?

Solche Fragen waren für Lessing ein Problem. Denn er sah schon die Spaltung der Menschen. Die einen sagen: Glaube, Wunder, Gott – das ist alles Erfindung, Blendung, Täuschung, Einbildung, Aberglauben. Das ist bedeutungslos, weil ich es nicht nachprüfen kann. Die anderen sagen: Du musst es halt glauben. Du musst beim Glauben und in der Kirche deinen Verstand ausschalten, deine Vernunft abgeben. 1777 veröffentlichte Lessing ein Buch, in dem er diesen Fragen nachging und das in seinem Titel sich genau auf das Paulus-Wort bezieht, das die Lesung heute zitiert: „Über den Beweis des Geistes und der Kraft". Darin schreibt Lessing:

„Wenn ich zu Christi Zeiten gelebt hätte, [und] gesehen ihn Wunder tun, hätte ich keine Ursache zu zweifeln gehabt, dass es wahre Wunder gewesen [wären]. (…) Wenn noch jetzt von gläubigen Christen Wunder getan würden, die ich für echte Wunder erkennen müsste, was könnte mich abhalten, mich diesem Beweise des Geistes und der Kraft, wie ihn der Apostel nennet, zu fügen?“ (…)

Lessing fragt sich: „Aber ich, (…) der ich in dem 18. Jahrhunderte lebe, in welchem es keine Wunder mehr gibt“, was sehe ich? Woran liegt es, dass ich dieser wunderbaren Geschichte nicht mehr glauben kann? Und er antwortet sich selbst: „Daran liegt es, dass dieser Beweis des Geistes und der Kraft jetzt weder Geist noch Kraft mehr hat, sondern zu menschlichen Zeugnissen von Geist und Kraft herabgesunken ist. Daran liegt es, (…), dass Nachrichten von Wundern nicht Wunder sind. (…) Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe.“

Was Lessing hier fast schon flehentlich vorträgt, ist eine ernstzunehmende Klemme des modernen Menschen. Die Theologie und wir Christen geben ihm Nachrichten und Kenntnisse von alten, von den biblischen Wunder. Aber Nachrichten von Wundern sind keine Wunder und haben deswegen auch keine anziehende Kraft. „Ich, der ich in dem 18. Jahrhunderte lebe, in welchem es keine Wunder mehr gibt…“, das ist das Dilemma auch vieler moderner Menschen im 21. Jahrhundert.

Lessings Hoffnung richtet sich auf Erfahrungen, die Menschen heute machen können. Sie – und nicht Rückgriffe auf historische Ereignisse – überzeugen, machen das Christentum glaubwürdig und erweisen es als die wahre Religion. Die Kirche nimmt seit langem Zuflucht zu Marienerscheinungen und den Wundern vom Blut Jesu, das flüssig wird. Das sind aber nicht die Wunder von der Qualität der biblischen Wunder. 

Mit dem Titel „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“ verweist uns Lessing nicht zufällig auf die biblischen Wunder und eben auf dieses Wort, das Paulus gesagt hat, das wir heute in der Lesung gehört haben:

„Meine Botschaft und Verkündigung war nicht Überredung durch gewandte und kluge Worte, sondern war mit dem Erweis von Geist und Kraft verbunden.“

Die große Kraft, mit der der Apostel reden kann, besteht nicht in einer überzeugenden Rhetorik, sondern im überzeugenden Leben von Gemeinden, die Paulus gegründet hatte. Sie besteht in der sichtbaren Wirkung, die die Verkündigung vom Leben, Tod und Auferstehen Jesu hatte. Gemeinden, die wirkliche Gemeinschaften waren, in denen es keine Notleidenden gab, weil alle füreinander einstanden, einander kannten und suchten, in denen sie immer neu versuchten, einmütig zu werden in ihren Plänen, ein Herz und eine Seele. 

Für Paulus waren das keine Ideale, sondern Erfahrungen. Es waren für ihn die eigentlichen Wunder, aber sie hatten nichts Mirakulöses an sich, nichts Spektakuläres, sondern war im Alltag, Montag bis Sonntag immer wieder erlebbar, gingen verloren, aus dem Sinn und wurden wieder möglich, Woche für Woche, durch das Zusammenkommen der Christen, durch Sprechen, Beten, Gottesdienst.

Für Paulus war das die Einlösung des Jesus-Wortes: „Ihr seid das Licht der Welt.“ Die Gemeinden der frühen Kirche wurden so wie Lichtpunkte in der Welt, die die Gesellschaften veränderten, aufklärten, erhellten.

Vielleicht denken Sie jetzt: Was hat die Philosophie mit mir, mit uns zu tun? Was hat Lessing und sein Problem mit uns zu tun, was die Aufklärung?

Diese Fragen haben in Wirklichkeit sehr viel mit uns zu tun. Weil durch die Jahrhunderte so viele Menschen dieselben Fragen wie Lessing hatten, dieselben Probleme mit Kirche und Glauben. Nachrichten von Wundern sind keine Wunder. Und weil auch heute so viele Leute sich von der Kirche abwenden, weil ihnen Kirche und Glaube bedeutungslos geworden sind, irrelevant, etwas Menschengemachtes, das man anderswo auch antreffen und verwirklichen kann. Jemand tritt aus der Kirche aus vielleicht wegen der Missbrauchsskandale oder wegen der kirchlichen Sexualmoral. Aber den Glauben gibt man nur auf, wenn er bedeutungslos geworden ist, wenn er als etwas erscheint, das eine Sache unter anderen ist, ein Engagement, eine soziale Haltung oder ein Anlass für Geselligkeit. Die vielen Menschen, die nicht nur der Kirche den Rücken kehren, sondern auch wirklich den Glauben aufgeben, lassen uns eigentlich keine andere Wahl als wie Lessing zu fragen: Woran liegt es?  

Gibt es heute nicht nur Wunder in der Kirche, sondern das Wunder der Kirche selbst? Gibt es Gemeinschaft, nicht nur Gemeinschaftsgefühl unter uns? Hat das Leben der Kirche hier am Ort etwas von der Qualität eines Wunders, das nicht menschengemacht ist?

Insofern hat dieser Sonntag mit seinen Worten vom Licht der Welt und vom notwendigen Erweis von Geist und Kraft etwas sehr Verheißungsvolles für uns, eine Perspektive, aber auch – zurecht – etwas Beunruhigendes.

 

Fünfter Sonntag i. Jkr. A – 4./5. Februar 2023 | Lesungen: Jes 58,7-10; 1 Kor 2,1-5; Evangelium: Mt 5,13-16 | Weilheim, St. Marien; Hechingen, St. Jakobus

Achim Buckenmaier