Ohrentraining
Homilie zum Vierten Fastensonntag -
man hat den Eindruck, dass um so kürzer die Zeit bis Ostern wird, die Evangelien der Fastensonntage um so länger werden. Sie zu hören, erfordert Zeit und Geduld. Aber vielleicht sind diese langen Geschichten aus dem Johannesevangelium, wie die Heilung des blinden Mannes heute, deswegen ausgesucht, damit unsere Ohren schon einmal trainiert sind für den Palmsonntag und für den Karfreitag, wenn der Weg der letzten Tagen Jesu, die Passion erzählt wird. Wie man die Beine und die Lunge trainieren muss für eine lange Wanderung oder eine Moutainbiketour, muss man auch die Ohren trainieren. Auch dazu helfen uns diese langen Texte an den Fastensonntagen.
Was wird aber vorgelesen? Die Auswahl der biblischen Texte geht auf die Entscheidung der frühen Kirche zurück, der Gemeinden der ersten drei, vier Jahrhunderte. An allen diesen Sonntagen geht es darum, die Menschen, die sich zur Taufe in der Osternacht angemeldet hatten, die Katechumenen, ganz intensiv in das Leben als Christ einzuführen. Das geht eben nicht im Twitterformat mit maximal 280 Zeichen, weder früher noch heute.
Das Evangelium von heute, die Blindenheilung, erklärt ihnen – und uns – den Weg des Christwerdens. Wie wird man Christ? In der Antike, also im Raum, in dem das Christentum entstand, gab es viele Religionen. Sie waren oft Mysterienreligionen. Manche fanden im Verborgenen statt. Man wurde in bestimmte Geheimnisse eingeweiht. Man durfte nicht mit anderen darüber sprechen. Die Aufnahme in diese Religionen waren geheimnisumwitterte, mystische, magische, emotionale Akte der Initiation.
Das Christentum – wie das Judentum, von dem es herkommt – ist dagegen etwas Öffentliches, Offenes, Rationales. Es geht nicht um Geheimnisvolles, Esoterisches, Rätselhaftes, sondern um Sehen und Verstehen und dadurch um Vertrauen. Der heilige Thomas von Aquin sagt, dass sich der Geist Gottes vom Geist Satans dadurch unterscheidet, dass er den Verstand nicht außer Kraft setzt.
So konnten die Taufbewerber in der Geschichte von der Blindenheilung ihren eigenen Lebensweg zum Christsein hin als ein Sehend-Werden verstehen. Von der Blindheit zum Sehen und Verstehen, wer Jesus ist, wer er für ihre eigene Existenz ist.
Das kommt in der Geschichte des Evangeliums sehr gut zum Ausdruck. Der Blindgeborene nennt Jesus zuerst den „Mann, der Jesus heißt“. Dann spricht er davon, dass Jesus „ein Prophet ist“. Am Ende nennt er ihn den „Herrn“ und glaubt ihm.
Auch in der ersten Lesung mit der Geschichte Davids, kommt das vor. Es dauert eine Zeit, bis man den Richtigen findet, der König werden soll. Zuerst kommen alle großen und starken Söhne des Isai an die Reihe. Erst am Schluss, erst durch das Nachfragen, kommt David in den Blick, der Richtige. Auch das ist eine Erzählung des langsamen Sehenkönnens, des Verstehenkönnens. So skizziert die Geschichte auch für uns die Gefahr, dass man nicht genügend hinschaut, dass man das Falsche sieht, das, was vielleicht naheliegend ist, das, was als „normal“ erscheint, aber nicht das, was Gott sich für sein Volk ausdenkt und zu dessen Glück wählt.
Das Evangelium besteht darauf, dass es zum Christwerden, zum Christsein das Wunder der Heilung braucht. Auch heute werden Menschen nicht Christen, weil ihnen kluge Bücher zum Lesen gegeben werden oder sie bequatscht werden oder dies und das in der Kirche endlich angepasst wird an das, was gerade angesagt ist, sondern weil sie etwas erleben, etwas sehen, was es sonst nicht gibt, ein „Wunder“ eben.
Wir haben an diesen Sonntagen das Taufgedächtnis gefeiert mit den Kindern, die dieses Jahr zur Erstkommunion gehen werden. Auch ihr Weg in die Kirche wird nicht dadurch möglich sein, dass wir sie in weiße Alben stecken, ihnen eine Kerze in die Hand drücken und sie das Glaubensbekenntnis sagen lassen.
Sie werden nur dann etwas von der Kirche und vom Glauben an Jesus sehen und verstehen,
wenn die, die schon lange Christ sind, auch da sind, real im Gottesdienst, Sonntag für Sonntag.
Wenn die, die heute die Kirche bilden, selber diese Freude ausstrahlen, dass sie Christ sind.
Wenn wir – sagen wir es verkürzt – von Gott sprechen, nicht von uns, was wir von der Kirche erwarten und fordern und ändern möchten, das heißt wenn wir davon reden, was der Glaube in unserem Leben bedeutet und verändert, wie er es jeden Tag reicht macht, sinnvoll macht, das Beste ist, was uns passieren konnte, jetzt schon.
Wenn es unter uns das Wunder gibt, dass verschiedene Menschen, die vielleicht einander fremd sind, die sich von Natur aus nicht verstehen würden und nichts miteinander zu tun hätten, Junge und Alte, Alteingesessene und neue Leute, Fremde, ihren Glauben und ihre Leben miteinander verbinden, aufeinander Acht geben. Wenn es das Wunder gibt, dass Unterschiede zwischen uns, Streit, Misstrauen, Parteienbildungen sekundär, zweitrangig, bedeutungslos werden, weil die Dankbarkeit und die Freude, dass wir als Christen leben dürfen, dass wir „berufen“, ausgewählt sind, größer ist als alles Trennende.
Die zweite Lesung von heute aus dem Epheserbrief hat diese Einsicht in einen Weckruf gekleidet: „Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten und Christus wird dein Licht sein.“ Das ist wie ein Wecker, der am Morgen klingelt und uns in das helle Licht des Tages ruft. Wir machen die Augen auf und sehen. Vielleicht ist das auch ein Wort für uns Heutige, angesichts der Kinder, der Jugendlichen, der vielen von der Kirche Enttäuschten, derer, die wie in einer Warteschleife auf etwas Wunderbares, etwas Gutes für ihr Leben warten, die auch „sehen und verstehen wollen“. „Wach auf, du Schläfer…“ Die Eucharistie, die wir feiern, kann ein Anfang sein für uns, aufzuwachen, heute, an diesem Sonntag.
Vierter Fastensonntag – 18/19. März 2023 | Beuren St. Johannes d. T. | Hechingen St. Jakobus | Lesungen: 1 Sam 16,1b.7-7.10-13b; Eph 5,8-14; Evangelium: Joh 9,1-4 | Achim Buckenmaier