Würde und Bürde der Freiheit

28. Sonntag im Jahreskreis A - Homilie: 

Es ist nicht schwer zu sehen, dass die erste Lesung und das Evangelium eine innere Verbindung haben. Jesus erzählt ein Gleichnis, er vergleicht Gottes Welt mit einer Hochzeitsmahl, an dem nicht gespart wird. Den Stoff für diese bildliche Sprache hat Jesus vom Propheten Jesaja genommen. Was Jesaja im Bild eines Festmahles sagte, was wir in der Lesung gehört haben: „An jenem Tag wird der Herr der Heerscharen auf diesem Berg – dem Zion – für alle Völker ein Festmahl geben mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen, mit den feinsten, fetten Speisen, mit erlesenen, reinen Weinen.“

Jesus war ein frommer Jude, war jeden Schabbat in der Synagoge, keine Frage. Wenn er etwas über Gott und seine Welt sagen wollte, konnte er auf Naturvorgänge zurückgreifen, auf neueste Nachrichten über besondere Ereignisse, auf Situation in der Wirtschaft, in der Landwirtschaft oder im Haushalt. Und er kannte eben die Heilige Schrift, die Tora, die Propheten, die Geschichtserzählungen, die Psalmen. Im Gleichnis des Evangeliums, das heute gelesen wird, greift er auf ein Bild des Propheten Jesaja, der 700 Jahre vor ihm gelebt hatte, zurück.

Ich möchte nur auf ein Wort aus dem Prophetentext eingehen, auch wenn die üppigen Bilder – „feinste Speisen, erlesene Weine“ und so fort – im wahrsten Sinn des Wortes Appetit machen, an ihnen weiterzudenken. Ich möchte auf die Ortsangabe schauen: „An jenem Tag wird der Herr der Heerscharen auf diesem Berg – dem Zion – für alle Völker ein Festmahl geben.“ Auf dem Zion. Der Berg Zion ist ein Bergrücken an der südöstlichen Spitze des antiken Jerusalem. Im Lauf der Jahrhunderte wurde der Bergname Zion zum Symbolnamen für Jerusalem. Wie kennen vielleicht am ehesten die „Tochter Zion“, die über ihren Messias jubelt, also die Stadt Jerusalem, die sich freut, das ein gerechter König sie rettet und in sie einzieht. 

Am vergangenen Samstag und seither ist über diesem Zionsberg, über der Stadt Jerusalem immer wieder Luftalarm. Diese Stadt und das ganze Land Israel liegen nicht im Frieden. Es gibt keinen Grund in diesen Tagen für feinste Speisen und Gelage mit erlesenen Weinen. Die Leute kaufen Wasser und Vorräte ein für ihre Bunker. Deswegen müssen wir heute ein wenig darüber nachdenken, warum es zu dieser Gewalt, zu dieser Brutalität, zu diesem Hass gegen die Juden kommt, der sich so in unvorstellbarer Grausamkeit über Babys, Alte, Familien, Junge Leute geworfen hat. Der Grund ist nur an der Oberfläche ein politischer. Die Politik der vergangenen acht Jahrzehnte spielt sicher eine Rolle. Aber es gibt noch mehr, es liegt noch mehr im Hintergrund, das auch uns Christen betrifft und beunruhigen muss. 

Erstaunlicherweise gibt uns das Gleichnis Jesu, das wir an diesem Sonntag hören, sehr exakt eine Auskunft.

Der Punkt im Gleichnis, auf den es ankommt, ist ja, dass der König, der ein Hochzeitsfest für seinen Sohn organisiert, unheimlich großzügig ist. Er lässt sich nicht lumpen. Er spart an nichts. Aber die Eingeladenen, sozusagen die VIPs, die auf der Gästeliste stehen, kommen einfach nicht. Sie haben Anderes, Wichtigeres zu tun. Sie würden vielleicht sogar gerne an der Hochzeit teilnehmen, aber eben nicht jetzt. Ausgerechnet jetzt kommt ihnen etwas dazwischen. Sie entscheiden sich für etwas anderes: Ein wichtiger Deal. Eine dringende Anlegenheit..

Was das Gleichnis voraussetzt, ist die Freiheit der Eingeladenen. Der König zwingt sie offensichtlich nicht zu kommen. Er lockt sie auch nicht zusätzlich eigens an. Die Einladung ins Königsschloss spricht ja für sich. Die Eingeladenen können hingehen oder nicht. Sie sind frei zu entscheiden. In dieser Einladung und der Reaktion der Eingeladenen zeigt sich ein Grundzug des Menschenbildes, zu dem Israel gefunden hat. Bei aller Skepsis und nüchternen Betrachtung: Der Mensch ist frei. Er kann der Einladung Gottes folgen oder nicht. Er kann ja sagen oder nein. Es liegt an uns. Es liegt an mir. Die jüdischen Weisen haben im Talmud gesagt: „Alles liegt in der Hand Gottes, nur die Gottesfurcht nicht.“ Mit anderen Worten: Gott kann alles vollbringen, aber ob wir ihm glauben, auf ihn setzen, ihnen ehren, das liegt einzig an uns. Das ist in unserer Hand.

Die Bibel ist voll von dieser Einsicht. Von der ersten Seite an. Adam und Eva: sie können Gott vertrauen oder seiner Güte misstrauen. Kain und Abel: Sich über Gott ärgern oder nicht. Den Bruder erschlagen oder nicht. Und viele andere Geschichten mehr. Die Zehn Gebote bauen darauf. Wäre der Mensch nicht frei, sie zu halten oder sie zu verwerfen, wären sie sinnlos. Alles liegt in der Hand Gottes, nur die Gottesfurcht nicht. Das gibt uns Menschen eine unglaubliche Würde, aber auch eine Verantwortung. Das ist eine Würde und auch eine Bürde, die die Erkenntnis des Judentums den Menschen zumutet. Und genau das möchte der Mensch – oder sagen wir: möchten viele nicht.

Viele Religionen und viele Kulturen nehmen dem Menschen diese Bürde, diese Last ab. Sie sagen: Alles ist Schicksal. Alles ist eine feststehende Verfügung Gottes. Oder: Die Mondphasen bestimmen über dich. Oder: Du kannst alles deiner Gesellschaft überlassen, der Mehrheit, dem Volk, der Nation. Du bist nur ein kleines Rädchen im Getriebe deines Clans oder deines Volkes. Deine Erfüllung findest du, wenn du einfach mitmachst, nicht nachdenkst. 

Das nehmen Völker, Kulturen und Religion den Juden bis heute übel: dass sie darauf beharren, dass der Mensch zur Freiheit berufen und fähig ist, dass uns die Freiheit aufgeben ist, dass wir verantwortlich sind für unsere Taten. Das verübeln viele dem jüdischen Volk: dass sie diese Möglichkeit zu wählen, behaupten und als Anspruch in die Welt gebracht haben, dass der Mensch frei ist, verantwortlich ist und für sein Handeln geradestehen muss. Der Konflikt, der jetzt wieder so aufgebrochen ist, hat, wie gesagt, sicher auch politische Gründe. Kriege sind, wie der Papst sagt, immer eine Niederlage für die Menschheit. Aber dass diese Feindschaft so bestialisch und menschenverachtend auftritt gegen Juden, das weist auf eine tiefere Feindschaft hin. Es geht nie nur um ein bisschen mehr Land, um etwas mehr politische Autonomie und weniger Besatzung. Es geht darum, dieses Wissen um Freiheit und Verantwortung aus der Welt zu beseitigen.

Ich bin selber überrascht, dass das Gleichnis dieses Sonntags uns einen Schlüssel an die Hand gibt, das Eigentliche des aktuellen Konflikts im Nahen Osten zu sehen. Das Eigentliche ist nicht politisch, sondern theologisch. Deswegen denken wir heute darüber nach. Das Gleichnis zeigt es. Und es ist ernst und zugleich zuversichtlich:

Auf der einen Seite ist es ein ernstes Gleichnis, weil es von unserer Freiheit, unserer Wahlmöglichkeit und damit auch von unserer Verantwortung spricht, und auch vom Widerstand, den Gott findet.

Auf der anderen Seite ist es ein optimistisches Gleichnis, weil es von Gott spricht als einem König, der uns zu einem Fest einlädt. Und weil Gott Wege findet, dass dieses Fest doch stattfindet. Er lädt offensichtlich ungeeignete Menschen zum Fest ein. Wir dürfen uns ein wenig in ihnen wiedererkennen, Gute und Böse, Freundliche und Grantige, Geeignete und Ungeeignete. Und wir dürfen uns auch freuen, weil wir im Hochzeitsmahl des Sohnes die konkrete Eucharistie, unsere festliche Versammlung wiedererkennen, zu der uns der König selbst, Gott, heute eingeladen hat und einlädt.

28. Sonntag im Jahreskreis A, 14./15. Oktober 2023  |  Burladingen St. Georg; Gauselfingen St. Peter und Paul; Stein St. Markus; Lesungen: Jes 25,6-10a; Phil 4,12-14;19-20; Evangelium: Mt 25,1-14  |  Achim Buckenmaier