Die Alternative

6. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C) - Homilie:

Im Evangelium des heutigen Sonntags haben wir eine der bekanntesten Stellen des Neuen Testamentes gehört, die sogenannten Seligpreisungen. Die Liturgie stellt dem Evangelium einen Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jeremia zur Seite, in der ebenso der Mensch, der auf Gott vertraut, seliggepriesen wird. Und dazwischen steht wie an jedem Sonntag ein Psalm. Heute ist es Psalm 1, also der erste von 150 Psalmen, die wir in der Bibel finden.

Das Buch der Psalmen aus dem Alten Testament ist das am meisten zitierte Buch im Neuen Testament. Jesus hat es immer wieder zitiert, weil er wie alle Juden mit diesem Buch gebetet hat, weil er die Psalmen auswendig kannte und sie sein inneres Gebetbuch waren. Mit den ersten Worten von Psalm 22 – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen…?“, eines Psalms der Not und zugleich des Gottvertrauens, stirbt Jesus am Kreuz.

Auch in der Kirche sind die Psalmen der Angelpunkt der Liturgie. Im Brevier der Priester, der Diakone, Ordensfrauen und Mönche sind die Psalmen der tägliche Grundstock. Viele Gläubige, die jeden Tag mit einem Morgenlob beginnen und mit einem Abendgebet enden, beten täglich in der Tradition des Stundengebets die Psalmen. Unser Gebet- und Liederbuch, das „Gotteslob“, hat immerhin 69 der 150 Psalmen abgedruckt, zum Singen in Gemeinschaft, im Gottesdienst, aber auch zum Beten zuhause. Ein riesen Schatz. Weil heute der allererste der Psalmen, Psalm 1, zwischen erster und zweiter Lesung steht als sogenannter Antwortgesang, ist es vielleicht angebracht, einmal auf diese Art von Gebeten, Liedern und Texten zu schauen.

Ein jüdischer Rabbi, Zemach Zedek, hat Anfang des 19. Jahrhunderts gesagt: „Wäre man sich der Macht der Verse in den Psalmen wirklich bewusst und würde man ihre Wirkung im Himmel erkennen, man würde die Psalmen unablässig sagen. Die Verse der Psalmen überwinden alle Schranken und steigen immer höher, sie flehen den Herrn des Universums so lange an, bis sie Güte und Erbarmen bewirken.“

Aber die Psalmen sind nicht nur ein Gebet, das die Distanz zwischen Erde und Himmel überwindet. Die Psalmen enthalten auch eine unglaublich tiefe Erkenntnis des Menschen. Sie sind ein unbestechlicher und nüchterner Spiegel der menschlichen Seele, also all dessen, was wir an Gefühlen und Neigungen in uns haben. Rainer Maria Rilke hat in einem berühmten Brief an seinen Verleger gesagt: „Ich habe die ganze Nacht einsam hingebracht (…) und habe schließlich die Psalmen gelesen. Eines der wenigen Bücher, in dem man sich restlos wiederfindet (wörtlich: unterbringt), mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein.“

Natürlich gibt es viele Gebete in der Kirche, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind, traditionelle Gebete, formelhafte Gebete und persönliche, freie Gebete. Aber die Psalmen übertreffen sie alle, weil sie die Erfahrungen eines ganzen Volkes, des jüdischen Volkes, gesammelt haben, die Erfahrungen einzelner Menschen mit einem Leben mit Gott, und die Einsichten einer Gruppe von Glaubenden, einer Gemeinschaft.

In den Psalmen begegnen uns Beter, die wie wir selbst an Gott glauben wollen, die aber irritiert sind, weil es in der Welt alles andere als gerecht zugeht, weil es so aussieht, als ob Gott so weit weg wäre oder so wenig eingreift. Beter, die direkt Gott anklagen, weil sie wegen ihres Glaubens gehänselt und gemobbt werden. Beter, die krank sind, depressiv, die schuldig geworden sind, die etwas verbockt haben, die sich elend fühlen, und die nichts mehr tun können, als Gott ihre Not hinhalten, die jammern, schreien. Was sagt jetzt aber dieser Psalm 1, diese Eröffnung des Psalmenbuchs, des Psalters?

In der Karriereberatung und der Werbung gibt es ein Motto, das sagt: You never get a second chance to make a first impression. Man bekommt nie eine zweite Chance, um einen ersten Eindruck zu hinterlassen. Psalm 1 ist eine solche „first impression“, er öffnet das Buch der 150 Psalmen. Die Anordnung der 150 Psalmen ist nicht zufällig. Das Buch der Psalmen, der Psalter, hat eine innere Architektur, die man erkennen kann. Und da spielt der erste Text, Psalm 1, natürlich eine besondere Rolle. Er ist der erste Eindruck, den wir Leser und Beter von den Psalmen bekommen sollen. Er gibt das Hauptmotiv an, das wir in den Psalmen finden können.

Die Grundeinsicht, die uns Beter begleiten kann, ist, dass es eine Alternative gibt. Alternative ist natürlich ein populäres Wort, nicht nur in der Politik. Es gibt auch eine alternative Medizin, alternative Zahlungsmöglichkeiten usw. Hier meint es in seinem ursprünglichen Sinn: Es gibt zwei unterschiedliche Möglichkeiten, es gibt zwei Optionen:

„Selig der Mensch, der nicht nach dem Rat der Frevler geht, sondern seine Freude hat an der Weisung des Herrn.“ Das ist die eine Seite. „Nicht so die Frevler. Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht.“ Das ist die zweite Seite.

Dieser erste Psalm besteht also darauf, dass es zwei Wege gibt, die der Mensch einschlagen kann, entweder auf sich selbst und andere Menschen zu bauen oder auf Gott zu vertrauen. Es gibt eine Alternative: links oder rechts, stabil oder instabil, fruchtbar oder wirkungslos. Die Bibel stellt diesen Psalm an den Anfang des Psalters, um die Leser daran zu erinnern, dass eine solche Alternative die ganze Geschichte des Gottes Volkes durchzieht.

Sein erster Buchstabe im Hebräischen ist ein Alef, also der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets und endet mit einem Wort auf den letzten Buchstaben des Alphabets in der hebräischen Sprache, Taw. Psalm 1 steht also für die ganze Sache des Glaubens, sozusagen von A bis Z. 

Natürlich gibt es in unserem Leben immer unzählige Möglichkeiten. Nicht alle Fragen sind auf die Alternative zweier Optionen zu reduzieren, aber hinter den tausend Eventualitäten und den vielen Situationen und offenen Fragen von A bis Z wird doch für den glaubenden Menschen die  e i n e  Alternative sichtbar: „Selig der Mensch, der nicht nach dem Rat der Frevler geht, sondern seine Freude hat an der Weisung des Herrn.“  „Nicht so die Frevler. Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht.“ 

Sie durchzieht die Geschichte bis hin zu Jesus, der ja auch nicht nur sagt „selig“, sondern auch die Kehrseite benennt „weh“, also darauf hinweist, was der Nichtglaube bedeutet. Das Vertrauen auf Gott, das sagen diese Stellen, eröffnet für den Menschen kein Schlaraffenland, kein billiges Glück, kein sorgloses Leben. Aber es verleiht ihm in all den Schwierigkeiten, die jedes Leben mit sich bringt, eine Stabilität. Die Bibel fasst es in Bilder der Natur: Der Glaubende ist wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist, er braucht nichts fürchten, wenn Hitze kommt. Seine Blätter bleiben grün, oder der Psalm sagt: Seine Blätter werden nicht welken und er bringt Früchte hervor.

Der Gottesdienst, den wir Sonntag für Sonntag feiern, ja die Kirche als Ganze, dieses „Unternehmen“ Kirche oder Pfarrei, das ist dazu da, um uns an diese Überlieferung, an diese Weisheit und Wahrheit, wie wir sie in den Psalmen finden, anzuschließen. Ohne die Gemeinschaft der Kirche, ohne die ersten Gemeinden, hätten wir die Bibel nicht und wüssten nichts von diesen Liedern. Die Kirche transportiert das Buch der Bibel und der Psalmen durch die Jahrhunderte. Und durch die wirklich glaubenden Menschen, durch die Heiligen, verbürgt sie uns die Wahrheit der Psalmen. Die Kirche, auch heute, zeigt uns in vielen einfachen Menschen, hingegebenen Personen, dass der Mensch diese Alternative erkennen kann: Gott zu vertrauen, an seiner Geschichte Freude zu haben  o d e r   sich abzuwenden.

Psalm 1, Jeremia und Jesus mit seinen Seligpreisungen und Wehrufen zeigen uns heute genau das: Wir sind verantwortlich und können und müssen uns entscheiden. Die Psalmen sprechen davon, dass der Weg mit Gott, der eigentliche Weg des Glückes ist, ein Weg der Stabilität und der Fruchtbarkeit. Dieser Weg ist vielleicht nicht einfach, jedenfalls ist er heute nicht einfacher als früher, aber er ist auch nicht wesentlich schwieriger, und vor allen Dingen: er ist möglich. Wir sind vielleicht auf den Blick nur unbedeutende Menschen, stehen nicht in der Zeitung, haben weniger als 100.000 follower. Man könnte denken, wir wären ein Spielball des Schicksals oder der Gene unserer Eltern oder der frühen Kindheitserfahrungen. Unser Lebensglück wäre abhängig von den Mondphasen oder den Börsenkursen.

Im Buch der Psalmen und besonders in diesem ersten Psalm steckt ein anderes Menschenbild, eines mit Nüchternheit, Optimismus und der Verantwortung. Die Verantwortung, so oder so zu handeln, habe ich jeden Tag, das ist eine Würde, die jeder und jede als Getaufte hat. Weil das in den seltensten Fällen große Dinge betrifft, sondern wir in unserem Alltäglichen verantwortlich sind, deswegen gibt es die Psalmen als Gebete, die man jeden Tag sprechen kann. 

„Selig, der Mensch, der Freude hat der Geschichte Gottes. Er ist wie ein Baum gepflanzt am Wasser, seine Blätter welken nicht. Er bringt Frucht.“ Wer wollte das nicht?

6. Sonntag i. Jkr. C  |  Gauselfingen St. Peter und Paul; Hechingen St. Jakobus  |  Lesungen: Jer 17,5-8; 1 Kor 15,12.16-20; Evangelium: Lk 7,17.20-26  |  Achim Buckenmaier