
Saul, David und die Feindesliebe
7. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C) - Homilie:
Die heutigen biblischen Texte zeigen, dass dieser Sonntag besonders wichtig ist. Viele Menschen in unserem Land, wir auch, schauen natürlich gespannt auf den Tag der Bundestagswahl. Man sucht, was aus den vergangenen Jahren zu lernen ist und was man anders machen könnte. Gleichzeitig ist unser geschichtliches Gedächtnis sehr kurz. Was war vor drei Jahren bei der letzten Wahl? Was vor 80 Jahren, am Ende des Zweiten Weltkrieges? Was war 1938, als um den Frieden in Europa gerungen wurde? 1914? Im Jahr 1500? Unsere persönlichen Erinnerungen, aber auch das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft sind begrenzt.
Deswegen ist es außergewöhnlich, dass uns die Kirche Sonntag für Sonntag in eine Geschichte hineintaucht, die seit vielen Jahrhunderten unterwegs ist, in die Geschichte Israels, die Geschichte Jesu und der Kirche. 2000, 3000, ja fast 4000 Jahre bewegt diese Geschichte des Glaubens Menschen.
Die Bibel, die Heilige Schrift aus Altem und Neuem Testament, ist wie ein gewaltiger Speicherplatz, wie eine Festplatte mit großer Speicherkapazität. Und die Liturgie öffnet uns jeden Sonntag den Zugang dazu. Und jeder, der Tag für Tag zu Hause betet oder in der Bibel liest, auch wenn es nur wenig ist, einen kleinen Abschnitt, das Evangelium des Tages, oder der werktags zum Gottessdienst kommt, hat Zugang zu diesem Speicher. Das ist ein enormes Privileg, ja, ich würde sagen: Das verleiht uns eine Art von Vorsprung gegenüber dem Vergessen und der so kurzen und selektiven Erinnerungen in unserer Gesellschaft.
Bernhard von Chartres, ein Mönch im Mittelalter, hat gesagt: Als glaubende Menschen sind wir Zwerge; aber wir sitzen auf den Schultern von Riesen. Mit anderen Worten: Wir sind zwar klein, unsere eigene Sicht ist begrenzt, aber auf den Schultern der Propheten, der Evangelisten und der Glaubenden aller Zeiten sehen wir einfach weiter.
Was sehen wir heute? Was aus dieser Geschichte wird uns heute vorgelegt?
Im Evangelium hat Jesus das Wort von der Feindesliebe in die Runde geworfen. Die erste Lesung aus dem Buch Samuel ist nun deswegen ausgesucht, um uns dieses Wort zu erklären, um uns die Geschichte dieser Haltung aufzuzeigen.
Die antike Welt ging ganz selbstverständlich von der Notwendigkeit und dem Recht auf Rache aus. Auch unseren Vorfahren, den Germanen, war die Rache, die Blutrache, das Selbstverständlichste der Welt. „Rache ist süß“, laute noch heute ein geflügeltes Wort. Und leider nicht ist es nicht nur ein Wort.
Das Samuelbuch beschreibt nun eine ganz andere Geschichte. Man muss etwas ausholen, um sie zu verstehen. Mit der ersten Lesung sind wir an der Wende vom zweiten zum ersten Jahrtausend v. Chr., um 1000 vor Christus also. Die zwölf Stämme Israels sind in das Verheißene Land eingewandert. Sie waren ein lockerer Verband, kein zentralistischer Staat. Aber irgendwann kam der Wunsch auf, einen gemeinsamen König zu haben, so zu sein, wie alle anderen Völker auch, die selbstverständlich Fürsten, Könige und Herrscher hatten.
Der Prophet Samuel warnte vergeblich davor. Das Königtum bedeutet: Steuern werden erhoben. Wehrpflicht wird eingeführt. Korruption zieht ein und so weiter. So kam es dann auch. Saul wurde der erste König Israels. Als König Saul älter wurde, erschien neben ihm der junge David. David hat Israel von der Gefahr der Philister befreit – die Geschichte zwischen David und Goliath ist bekannt. David sollte der Nachfolger Sauls werden. Aber aus der anfänglichen Bewunderung und Zuneigung zu David wurde bei König Saul Neid und Eifersucht. Wie es eben so ist.
Saul stellt David nach und versucht, den Konkurrenten umzubringen. David muss fliehen, und er wird ein Bandenführer in der Wüste und führt ein unstetes Leben. Saul jagt ihn und will ihn zu Fall bringen. Die Lesung, die wir heute gehört haben, erzählt von einem Zusammentreffen zwischen beiden, das schon das zweite in dieser Geschichte ist. Sie erzählt, dass David diesen Kreislauf von Gewalt und Vergeltung durchbricht. Obwohl er die Möglichkeit hatte, den König zu töten, verzichtet er darauf. Zweimal verzichtet David darauf, Rache zu nehmen, obwohl aus dem väterlichen Freund sein Feind geworden ist, und obwohl die Freunde und Begleiter Davids ihn zur Vergeltung anstacheln.
Man merkt an der biblischen Geschichte, dass schon die Autoren und die damaligen Leser dieses Verhalten für außergewöhnlich halten. Es entspricht nicht dem, was man erwartet. Und es entspricht auch nicht dem, wie wir normalerweise in unserem kleinen Leben reagieren, wo – wenn wir ehrlich sind – auch bisweilen das Heimzahlen und die „süße Rache“ vorherrschen. In dieser Geschichte aus dem Alten Testament wird eine neue Ethik sichtbar, die bis zum Wort Jesu von der Feindesliebe reicht. Die Ethik des Alten Testaments verlässt die Spirale von Gewalt und Gegengewalt, von Verletzung und Rache, von Ehre und Blutrache.
Der Satz „Aug um Aug, Zahn und Zahn“, der sich im Alten Testament findet, ist Ausdruck dieser neuen Moralität. Er hat nie gemeint, dass man dem anderen auch ein Auge ausschlagen darf oder einen Zahn. Der Satz bedeutet, dass man den Schaden ersetzen muss, dass man einen Ausgleich einfordern kann, der dem Schaden entspricht. Anders gesagt: Dass man wegen einer Ehrverletzung nicht gleich jemand umbringen darf, wie es manche Kulturen immer noch kennen. Vergeltung für entstandenen Schaden, Schadensersatz darf gefordert werden und muss geleistet werden, aber es muss immer entsprechend sein. Da hat die jüdische Bibel einen enormen sittlichen Fortschritt gebracht und zur Humanität beigetragen.
Diese Ethik ist immer mehr gereift. Bis hin zu diesem Wort von der „Feindesliebe“. Feindes l i e b e meint nicht die Forderung eines Gefühls, das man nicht hat. „Feindesliebe“ meint Gerechtigkeit, die man auf jeden Fall üben muss, Respekt vor den Geboten Gottes. Barmherzigkeit, die Gott selber hat. Das Wort ist gefüllt mit dieser Geschichte Davids und Sauls. Deswegen wurde sie heute erzählt. Deswegen versuchen wir sie zu verstehen.
Jesus hat dieses Wort nicht irgendjemand gesagt und nicht der ganzen Welt. Im Evangelium heißt es, dass er seine Jünger zu sich rief und zu ihnen sagt: „Euch, die er zuhört, sage ich das…“
Nicht die ganze Welt muss diese Gebote aufnehmen. Es genügt, wenn sie von den Jüngern untereinander gelebt werden. Die Gemeinschaft der Jünger ist der Grund dafür, dass derjenige, der vergibt, nicht ausgenutzt wird. Die Gemeinde der Jünger ist die Bedingung dafür, dass derjenige, eine Ungerechtigkeit nicht heimzahlt, der auch noch den Mantel dazu gibt, dass er am Ende nicht ohne alles dastehen wird.
Die Geschichten und Worte, die hier im Gottesdienst vorgelesen werden, haben immer das zur Voraussetzung: Dass es eine Gemeinschaft von Menschen gibt, die einander helfen, die Gebote Gottes zu leben, die aufeinander aufpassen, dass nicht der eine ausgenutzt wird, unter der andere es ausnutzt. Die Texte, die hier vorgelesen werden, sind aus der Gemeinschaft des Gottes Volkes und der Jüngerschaft entstanden, und sie wollen dazu helfen, dass es diese Gemeinschaft heute gibt.
Das Ziel Gottes ist es, dass es ein solches Volk in der Welt gibt, damit das Maß seiner Zuwendung, seiner Barmherzigkeit und seiner Großzügigkeit anschaubar ist, damit man sieht, dass es gelebt werden kann. Nicht flammende, aber billige Appelle und Moralpredigten, sondern ein solches gelebtes, gemeinschaftliches Leben ist unser Beitrag und zum Wohl unserer Gesellschaft und zum Frieden in der Welt.
7. Sonntag i. Jkr. C | Boll St. Nikolaus; Sickingen St. Antonius | Lesungen: 1 Sam 26,2.7-9.12-13.22-23; 1 Kor 15,45-49; Evangelium: Lk 6,27-38 | Achim Buckenmaier