Das ganze Evangelium
Zweiter Advent B - Homilie:
Mit dem ersten Advent hat wie jedes Jahr ein neues Kirchenjahr begonnen. In den Gottesdiensten am Sonntag ist jedes Jahr von einem der ersten drei Evangelien geprägt – von Matthäus, Markus und Lukas. In diesem neuen, nun begonnenen Jahr wird es das Evangelium nach Markus sein, das an fast allen Sonntagen des Jahres gelesen wird. Und heute haben wir den Anfang dieses kleinen Buches, des Markus-Evangeliums, gehört: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Gottes Sohn.“ So beginnt der Schreiber, Markus, der nur eine Generation nach Jesus diesen Bericht aufschreibt. „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus.“
Wir nehmen das Wort Evangelium ganz selbstverständlich in den Mund. Manchmal übersetzt man es auch mit „Gute Nachricht“ oder der Priester oder Diakon sagt nach dem Vorlesen: „Frohe Botschaft unseres Herrn Jesus Christus“. Das ist natürlich richtig. Der Glaube, die Geschichte des Gottesvolkes, die Geschichte Jesu von Nazareth sind eine gute Nachricht für uns. Aber die modernen Übersetzungen verleiten vielleicht dazu, das Ganze als etwas Frommes, Harmloses und Anspruchsloses misszuverstehen.
Eine gute Nachricht kann eine Rentenerhöhung sein, ein Karrieresprung, ein Lottogewinn, das Genesen von einer Krankheit, etwas, über das man sich eben freut. Aber ist das Evangelium eine solche „frohe Botschaft“?
Markus hat das Wort Evangelium bewusst gewählt, um seinen Bericht vom Leben Jesu zu kennzeichnen. Dieses griechische Wort war seinen Zeitgenossen, den Menschen in der römischen und griechischen Antike durchaus vertraut. Als „Evangelien“ wurden damals alle Nachrichten und Erlasse des römischen Kaisers bezeichnet. Der Inhalt solcher „Evangelien“ war nicht religiöser, sondern politischer Natur. Die Nachricht eines Sieges über ein feindliches Heer wurde als Evangelium bezeichnet, der Geburtstag von Kaiser Augustus oder die Ausrufung eines neuen Soldatenkaisers im Römischen Reich. Evangelium waren diese Nachrichten einfach dadurch, dass sie vom Kaiser kamen. Ob es wirklich eine gute Nachricht war oder vielleicht eher eine schlechte, bedrohliche für die Menschen, spielte keine Rolle. Dem Wort Evangelium haftete also eine gewisse Unsicherheit an, und vor allem war es von der kaiserlichen Autorität getragen. Evangelium wurde eine Nachricht nicht durch den Inhalt, sondern durch den Absender, den Kaiser, der sich als Gott verehren ließ.
In diesem Sinn hat auch Markus seine Darstellung des Lebens, der Verkündigung, der Passion und des Todes Jesu als Evangelium verstanden. Es ist eine „gute Nachricht“, aber nicht, weil sie uns auf Anhieb gefallen will, nicht, weil sie unseren Wünschen und Vorstellungen entgegenkäme, sie für uns bequem wäre, sondern weil sie von dem kommt, der nicht wie der Kaiser Gott spielt, sondern der – wie es Markus gleich im ersten Satz sagt – der Sohn Gottes ist, also der, der wirklich von Gott her kommt, vom Gott Israels her denkt und lebt. Das ist das eigentlich „Gute“ an dieser Nachricht: Der „Absender“ ist Gott und sein Wort.
Dennoch bleiben die Evangelien für uns bisweilen sperrig. Seit es die vier Evangelien gibt, also schon rund 2000 Jahre lang, gab es immer wieder Versuche, das Sperrige und Unangenehme in ihnen abzuschleifen und unschädlich zu machen. Es wurden immer wieder Ausgaben der Bibel zusammengestellt, in denen die Worte Jesu vom Gericht Gottes, vom Feuer, das er auf die Erde wirft, vom jüdischen Gesetz, das bis auf den kleinsten Buchstaben, das Jota, gültig bleibt, ebenso gestrichen waren wie die Aufforderung, die Feinde zu lieben, die andere Wange hinzuhalten oder auch Gleichnisse wie das von den fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen und anderes, was unserer Vorstellung vom „lieben Gott“ querkommt.
Wenn man dagegen alle Lieblingsbibelstellen zusammenstellen würde, die so gemeinhin für Trauungen, Taufen und Erstkommunionen gewählt werden und über die wir Priester, Diakone und pastorale Mitarbeiter gerne predigen, kämen immer die gleichen Worte heraus. Sie würden auf eine Postkarte passen. „Gott ist die Liebe.“ „Lasset die Kinder zu mir kommen.“ „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind…“ und so weiter.
Das alles sind Worte der Heiligen Schrift, aber sie sind nicht das ganze Evangelium. Schon Paulus hat damit gerungen und erkannt, dass diese wirklich „gute Nachricht“ von Jesus, der gekreuzigt wurde, für die einen ein Unsinn, für die anderen ein Skandal ist.
Auch die Kirche unserer Zeit und besonders in unserem Land ringt darum, dass sie das ganze Evangelium verkündet und versteht. Dass sie nicht verschweigt, dass mit Jesus einer kommt, der – mit den Worten Johannes des Täufers – „stärker ist als ich“, der mein Leben als Getaufter in Beschlag nimmt, der mein Leben unter die Gebote Gottes stellt, dem ich mich überlasse, nicht mir selbst, der meinem eigenen Wollen eine Grenze setzt. Das „Gute“ und „Frohe“ am Evangelium ist, dass es mich in eine Geschichte hineinnimmt, die um Frieden und Gerechtigkeit ringt, die von Schuld, Versagen und Versöhnung spricht. Das „Gute“ und „Frohe“ am Evangelium ist, dass es uns in die Geschichte des jüdischen Volkes mit hineinnimmt. Dass wir so Worte hören und aufnehmen können wie die des Propheten Jesaja, die wir heute als erste Lesung gehört haben: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen…“. Dass Gott auch uns„tröstet“, dass er uns Klarsicht verschafft, Trost, Zuversicht, auch wenn viele die Sache des Glaubens für verloren, für veraltet halten, für eine lästige oder lächerliche Sache, die man endlich entsorgen muss.
Auch dem heutigen Jerusalem und dem heutigen Israel wünschen wir Sicherheit und Frieden, weil es in der gegenwärtigen Auseinandersetzung nicht um Politik und Besatzung geht, sondern der Hass gegen Gottes Volk und Gottes Sache ausgebrochen ist, der sich auch gegen uns richtet. Das zu sehen und zu verstehen, ist letztlich eine „gute Information“, auch wenn sie für viele unverständlich ist, eine Provokation, und nicht dem entspricht, was jeden Tag als sogenannte „Nachrichten“ auf uns einhämmert.
Der heutige zweite Advent mit diesem Anfang des Markusevangeliums ist wie eine Lesehilfe für die Nachrichten aus unserer Zeit und ein Ruf zur Wachheit, der Umkehr zur Wahrheit des ganzen Evangeliums. Mit diesem Wissen können wir jeden Sonntag das Evangelium hören, das nicht ein fremder Text aus vergangenen Zeiten ist, sondern sich an uns Heutige richtet, an jeden und jede von uns und an uns als seine Kirche, seine Gemeinde heute.
Gott „sammelt sein Volk mit starker Hand“ sagt Jesaja. Das ist die wirklich „gute Nachricht“, die „frohe Botschaft“. Dieses Versammeln und Sammeln macht Gott auch heute, auch jetzt in dieser Eucharistie, die wir feiern. - Zweiter Advent B, 9./10. Dezember 2023 | Beuren St. Johannes d,T.; Boll St. Nikolaus; Jungingen St. Sylvester
Lesungen: Jes 40,1-5.9-11; 2 Petr 3,8-14; Evangelium: Mk 1,1-8
Achim Buckenmaier