Niemand ruft deinen Namen an
Erster Advent B - Homilie:
Trotz aller Schwächen und Fehler der Kirche ist ihre Liturgie, ihr Gottesdienst unschlagbar und immer wieder überraschend. Während sich in den Läden die Schokoladennikoläuse stapeln und man von einer sogenannten „vorweihnachtlichen Besinnung“ zur anderen, vom Glühwein zum Lichterzauber taumelt und überall eine wohlige, heimelige Stimmung erzeugt sein will, sind das Evangelium und die Lesungen des Ersten Advent unbestechlich nüchtern und realistisch. Sie sind alles andere als gefühlsduselig und verbreiten überhaupt keine adventliche Stimmung. Es ist vielmehr von Drangsal die Rede, dass sich die Sonne verfinstern wird, der Mond nicht mehr scheint, die Sterne vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels erschüttert werden. Es ist also von globalen Katastrophen die Rede, von tiefen Erschütterungen.
Diese Redeweise war zur Zeit Jesu nicht ungewöhnlich. Es gab auch in der Antike furchterregende Phänomene, Naturkatastrophen, marodierende Heere, plündernde Armeen, Geiseln, Massaker, Umstürze, Inflation und Haushaltslöcher. Aber es ging Jesus nicht um Zeitgeschichte oder um Politik. Er redete vielmehr aus der Erfahrung der Propheten Israels. Deswegen hat die Liturgie eine Lesung aus dem Alten Testament dazu genommen, aus dem Buch des Propheten Jesaja. Da geht es vor allem um die Katastrophe, dass Jerusalem zerstört und das jüdische Volk jahrzehntelang ins Babylonische Reich verschleppt worden war. Jesaja schaut auf diese Ereignisse zurück. Die Ursachen für das Unglück, das das jüdische Volk getroffen hatte, sucht der Prophet aber nicht bei anderen, nicht auswärts, nicht bei anderen, nicht bei fremden Völkern.
Die Ursache gibt er sehr präzise an: „Niemand ruft deinen Namen an, keiner rafft sich dazu auf, festzuhalten an dir.“ Der Unglaube der zum Glauben Berufenen ist die eigentliche Not der Welt. Das ist die schlimmste Katastrophe, die sie treffen kann. „Niemand ruft deinen Namen an“, das heißt: Selbst im Gottesvolk ist das Festhalten an Gott, das Vertrauen auf sein Handeln verloren gegangen.
Vor vierzehn Tagen ist eine Untersuchung unter Christen veröffentlicht worden, die sagt, dass heute nur noch vierzehn Prozent der Katholiken täglich beten. Der Anteil der Betenden hat sich in den letzten zwanzig Jahren einfach halbiert. 2002 gaben 28% der Katholiken an, täglich zu beten, 2022 nur noch die Hälfte, 14%. Eine Praxis, die Jahrhunderte lang zum Kern des Christseins gehört hat – Morgengebet, Gebet am Tisch, Gebet am Abend, der Engel des Herrn oder ein Nachtgebet – das ist einfach verschwunden, versickert wie ein Bach in einem trockenen Flussbett. „Niemand ruft deinen Namen an.“
Und die Frage ist natürlich auch, was das dann für ein Beten war und ist: „Lieber Gott, mach, dass Melanie die Matheklausur besteht.“ „Mach, dass die Untersuchung bei Oma gut wird und es kein Krebs ist.“ „Schenke uns einen schönen Urlaub.“ „Lass mich heil ankommen…“ So oder ähnlich steht es in den Fürbittbüchern, die oft in den Kirchen ausliegen. Man kann und darf um vieles beten. Man darf in der Not sich Gott anvertrauen. Aber ist das schon das ganze „Anrufen des Namens Gottes“?
Viermal im heutigen Evangelium kommt das Motiv des Wachseins vor. Jesus seine Jünger zur Wachsamkeit auf: Seid wachsam! Gebt Acht! Beten, den Namen Gottes anrufen, meint also nicht, dass wir wie in einem Automaten eine Münze einwerfen, eine Bitte an den lieben Gott, und dann kommt das Gewünschte heraus. Beten bedeutet wachsam sein. Acht geben auf die Welt, beobachten, was in ihr passiert und wie sie läuft. Und darin: Wach sein für die Gegenwart Gottes. Aufmerksam sein für seine Gebote, die, wenn wir es genau nehmen, tatsächlich uns erschüttern können, was wir so von uns aus denken und möchten, auf den Kopf stellen. „Die Sterne fallen vom Himmel.“ Das ist allen wirklich Glaubenden so gegangen, dass sie irgendeine Sache wollten, erreichen wollten im Leben und dann kommt Gott und seine Verheißung oder seine Verbote und Gebote dazwischen.
Der eine ist vielleicht gekränkt worden, verletzt worden, und die Wunde an der Seele tut noch weh, und dann denkt man, man muss das zurückzahlen. Bei nächster Gelegenheit zahle ich das heim, subtil vielleicht, aber deutlich. Und dann hört man plötzlich im Gottesdienst Jesu Wort: „Nicht siebenmal vergeben, sondern siebzigmal siebenmal.“
Oder ein anderer leidet daran, dass er nicht erreicht hat, was er wollte, nicht die Traumfrau bekommen, nicht das große Geld, nicht die Karriere gemacht. Andere sind schneller gewesen. Ziehen an ihn vorbei. Und dann wird man bitter. Redet schlecht über einen anderen, der mehr erreicht hat. Stellt ihm vielleicht ein Bein… Und dann hört man: „Freut euch, eure Namen sind im Himmel verzeichnet.“ „Jedes Haar auf eurem Kopf ist gezählt.“ Oder: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen…“
Oder man hat sein Leben als junger Mensch schon geplant, alles schön eingerichtet und dann kommt unerwartet eine Krankheit, die Not eines Angehörigen, ein behindertes Kind, oder auch eine Not in der Kirche, eine Aufgabe, die niemand sonst macht, als Gemeindeteam, als Beter… und dann verblassen meine bisherigen Sonnen und Monde, meine Ideale und Ideen und ein ganz anderer Stern geht auf, ein Stern des Glaubens, des Dienens, des unspektakulären, alltäglichen Tuns.
Alles das geht uns nur auf als etwas Dringliches, Wertvolles und Schönes, wenn wir wach sind, wenn wir uns vom Glamour, von der Gewohnheit, von der Anpassung an andere, vom „Ich muss zuerst noch das und das erledigen“ nicht einlullen und einschläfern lassen. Wir können das nicht anderen einreden. Wir können uns nur gegenseitig helfen, wir, die wir hier sind, dass wir wach werden, wachsam sind. Wir können den 9 von 10 Katholiken auch nicht das tägliche Beten beibringen. Wir können nur selbst beten. Wir können nur selbst den Namen Gottes anrufen.
Es gibt viele Wege zu beten. Man muss dazu nicht ins Kloster gehen. Wenn man einen Beruf hat, eine Familie, Verpflichtungen, dann sieht das anders aus als für einen Menschen, der Zeit hat. Das Gotteslob ist voll von Morgen- und Abendgebeten, auch von Liedern, die wie Gebete, wie die Heiligung des Tages sind, vor allem von Psalmen, die schon seit 3000 Jahren gebetet werden, in die Israel als Volk, aber auch einzelne Glaubende ihre Freude und ihre Nöte, ihren Dank für die Treue Gottes und ihr Bekenntnis zu ihm gelegt haben.
Dann merken wir: Beten heißt nicht, dass meine Wünsche erfüllt werden müssten. Nicht: Mach das oder jenes. Schenke mir dies oder das. Sondern: Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf der Erde, so durch uns. Wir beten nicht, damit wir etwas bekommen, sondern damit Gott etwas bekommt, ein Werkzeug, um die Katastrophen in der Welt zu besiegen. Ein Volk von Menschen, die Frieden halten und Vergebung leben. Die der Welt zeigen, dass dies möglich ist.
Wenn wir beten, stellen wir uns vor Gott und seine Offenbarung, unter seine Verheißungen und unter seine Gebote. Sie werden unser Maßstab. Das gibt unserem Leben einen ganz anderen Stand. Es fügt uns auch mit anderen zusammen. Es formt Gemeinschaft. Damit wir für unsere Welt eine Hilfe sind.
Erster Adventssonntag B, 3. Dezember 2023 | Stein St. Markus | Lesungen: Jes 63,1.6b-17.19b; 64,3-7; 1 Kor 1,3-9; Evangelium: Mk 13,24-37 | Achim Buckenmaier