Die Predigt von Józef und Wiktoria Ulma

24. Sonntag im Jahreskreis A - Homilie:

Ich möchte heute nicht über das Evangelium selbst sprechen, sondern darüber, wie es Wirklichkeit wird, wie es wirksam wird. Der heilige Augustinus hat gesagt, er würde den Evangelien nicht glauben, wenn nicht die Kirche sie ihm vorlegen würde. Das heißt, dann wären die Evangelien und die Heilige Schrift vielleicht interessante Texte, kulturgeschichtlich interessant, religionsgeschichtlich bemerkenswerte Dokumente, aber sie hätten uns nichts zu sagen, nichts unserem Leben zu sagen, unserem Tun, unserem Verhältnis zur Welt und unseren Mitmenschen. Wie legt die Kirche uns die Heilige Schrift aber als Lebenstexte vor, als rettendes Wort, als weltveränderndes Wort?

Das Evangelium erhält seine Kraft und seine Autorität durch das gelebte Leben. Seit viertausend Jahren nehmen Menschen, nimmt eine Gemeinschaft von Menschen, ein Volk, dieses Wort ernst, das wir in der Lesung aus dem alttestamentlichen Buch Jesus Sirach gehört haben: „Bleib den Geboten treu! Denk an die Gebote.“

Am vergangenen Sonntag fand in Markowa, einem kleinen Ort in Südostpolen, ein Ereignis statt, das bei uns fast ganz unbekannt ist und übergangen wurde: Die Seligsprechung einer ganzen Familie: Mutter, Vater, sieben kleine Kinder. Wie kam es dazu? Was war passiert? Was bedeutet das für uns?

Es geht um das junge polnische Ehepaar Józef und Wiktoria Ulma, 44 und 32 Jahre alt, die zusammen mit ihren sechs Kindern und ihrem siebten noch ungeborenen Kind als Märtyrer für den Glauben seliggesprochen werden. 1942 wurden in Markowa von einem deutschen Polizeikommando einhundert polnische Juden erschossen. Die Bewohner des Dorfes mussten diesem Grauen zusehen, als Abschreckung. Die gläubigen Katholiken Józef und Wiktoria Ulma entscheiden daraufhin, Juden, die noch lebten, bei sich zu verstecken. Sie hatten fast anderthalb Jahre lang in ihrem etwas vom Ort abgelegenen Haus acht Juden aus ihrem Dorf bzw. der Umgebung vor den Deutschen verborgen: Saul Goldman und seine vier Söhne, die zwei Schwestern Gołda Grünfeld und Lajka Didner sowie ein namentlich nicht bekanntes Mädchen, wahrscheinlich die Tochter von Lajka Didner. Es war natürlich unglaublich schwierig, so viele Menschen auch zu ernähren. Ulmas waren Bauern, Józef Ulma war auch leidenschaftlicher Photograph; sie gibt es schöne Photos von der jungen, gläubigen, frohen Familie. 

Aus Habgier wurden sie verraten. Das Haus wurde umstellt. Sie wurden alle zusammen im 24. März 1944, von dem deutschen Polizeikommando vor ihrem Haus erschossen, auch die Kinder. Zuerst die Juden, dann Vater und Mutter, die mit dem siebten Kind schwanger war, schließlich die Kinder. 

Nun wurde also zum ersten Mal eine ganze Familie als Märtyrer für ihren Glauben seliggesprochen wird. Die ganze Familie hat ja diesen Versuch der Rettung anderer Leben getragen, auch die Kinder, und alle haben zusammen mit ihrem Leben dafür bezahlt. Die Seligsprechung der Ulmas zeigt auf eine ganz besondere Weise die einzigartige Würde der Familie, einer Familie, die aus dieser Tradition lebte: „Bleib den Geboten treu! Denk an die Gebote.“

Für uns ist das nicht einfach ein Teil der Erinnerungskultur an den Holocaust. Es ist ein ganz außergewöhnliches Beispiel dafür, wie das Evangelium Kraft hat und das Leben prägt, bis ins Letzte hinein. Józef und Wiktoria Ulma hatten nicht Theologie studiert, kannten keine Kirchenpolitik, träumten nicht von einer besseren, gefälligeren Kirche, von einem Glauben, der für die breite Mehrheit akzeptabel ist, „anschlussfähig“, aber sie waren im Evangelium völlig gebildet, sie waren sich der Existenz Gottes und seiner Gebote total sicher. Sonst wären sie nie dieses Lebensrisiko eingegangen. „Bleib den Geboten treu! Denk an die Gebote.“

Einfache Bauern, einfache Menschen. Woher hätten sie dieses Wissen erwerben könne, wenn nicht aus dem Gottesdienst der Kirche, die sie jeden Sonntag besuchten, aus dem Evangelium, das da vorgelesen und verkündet wurde in ihrer schlichten, kleinen Dorfkirche. Viele haben dasselbe gehört wie sie, aber haben nichts verstanden und entsprechend anders gehandelt. Hatten nicht diesen Mut. So ist es immer. Wer aber nicht an dieser Schulung teilnimmt, die der Gottesdienst der Kirche ist, wird nie diese Alternative verspüren: So oder anders zu handeln.

Ob die ganze Sache der Kirche, der Plan Gottes zur Rettung der Welt, Kraft in der Welt entfaltet, ob er eine Glaubwürdigkeit für unsere kritischen, ablehnenden Zeitgenossen und für die kommende Generation, unsere Kinder, Enkel, Schulkameraden und Freundinnen und Freunde, die wir als Junge haben, ob er eine Glaubwürdigkeit gewinnt, die sie aufmerken, hinschauen oder auch nur fragen lässt, hängt nicht an Papieren, Konzepten und schönen Angeboten, sondern daran, ob wir selbst in diese Schule des Evangeliums gehen, und wo könnte das mehr sein, als am Tisch Jesu, in der Kirche, im Zusammenkommen zum Gottesdienst. Auf was setzen wir? Auf uns selbst? Unsere Träume? Unsere Meinungen? Oder auf diese Treue?

Wir sind Gott sei Dank nicht vor diese Herausforderungen gestellt wie die Familie Ulma während des Krieges. Aber der Ernst unserer Berufung ist derselbe. Es geht nicht um die Kirche, sondern um unsere Welt, die Menschen, ob sie eine Alternative sehen, eine Hoffnung sehen für ein anderes, friedfertiges, gerechtes, freies, menschenwürdiges Leben.

Bitten wir heute in dieser Eucharistie darum, dass uns Gottes Wort trifft und berührt und wir uns hier als Versammlung vor Gott und um Jesus herum gegenseitig helfen, es aufzunehmen und zu leben: „Bleib den Geboten treu! Denk an die Gebote.“

24. Sonntag im Jahreskreis A, 16.17. September 2023 | Stetten unter Holstein St. Silvester; Schlatt St. Dionysius; Burladingen Comunità italiana

Lesungen: Sir 27,30-28,7; Röm 14,7-9; Evangelium: Mt 18,21-35

Achim Buckenmaier