Emmaus - aktuell ausgelegt

Am Dienstag in der Osteroktav verstarb Prof. Dr. Gerhard Lohfink, der für mich durch sehr viele Jahre Lehrer, Freund und Ratgeber war. Das Requiem fand am Samstag 13. April in Starnberg statt. Da ich als Evangelium die Ostererzählung von den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus gewählt habe und ich viele Anregungen für die Predigten in unseren Gottesdiensten  von Gerhard Lohfink erhalten habe, stelle ich diese Predigt des Requiem hier ein. AB

 

Liebe Schwestern und Brüder,

kurz nach dem Tod Gerhards gab es eine kleine Irritation durch die Münsteraner Kirchenzeitung, die einen kläglichen Nachruf unter die Überschrift stellte: „Umstrittener Theologe Lohfink gestorben“. Nach der geschliffenen Intervention eines Lesers erschien derselbe Beitrat tags darauf mit dem Titel „B e k a n n t e r  Theologe Lohfink gestorben“. Uns hilft dieser kleine Ausrutscher in dieser Stunde heute morgen, nicht nur das Leben Gerhard Lohfinks klarer zu sehen, sondern auch das Evangelium Gottes, das, was uns aus dieser Stunde und noch mehr aus unserer gemeinsamen Geschichte her anredet. 

Marius Reiser, Gerhards Schüler aus der Tübinger Zeit, hat in einem wundervollen Interview mit Radio Horeb Gerhard unter anderem als einen außergewöhnlich „ordentlichen Menschen“ beschrieben, der zu Beginn jeder Arbeit seine Bleistifte auf dem Schreibtisch exakt quer oder längs ordnete. So habe ich es auch erlebt, amüsiert und voll Respekt zugleich. Jeder hat Gerhard so gekannt. Und dieses Nachtreten in der Kirchenzeitung, ein Nachtreten auf die Gemeinde mit dem Wort vom „umstrittenen Theologen“ hilft nun, ohne dass es gewollt war, auch das zu sehen, was das Leben dieses ordentlichen Menschen in einer Weise durcheinander gebracht hat, in einer Weise, die mehr als nur die Schreibwerkzeuge eines Theologen in Unordnung brachte: 

die Botschaft vom Auferstandenen, der nicht nur historisch ist und historisches Interesse weckt, sondern präsentisch ist, ja er selbst präsent ist in seiner Kirche bis auf den heutigen Tag, wunderbarer Weise, wie man sagen muss, bis in unsere Eucharistie jetzt und hier hinein. Das ist eben zu aller Zeit nicht nur „bekannt“, sondern auch „umstritten“ und jeder, der daran teilhat, hat auch teil an der Bekanntheit und auch der Kontroverse.

Lukas hat uns einen Anfang dieser Geschichte erzählt, wie sie am Ostermontag, einen Tag vor Gerhards Tod, die Kirche in ihrer österlichen Liturgie erzählt. 

Es gibt eine alte Legende, die besagt, dass der Evangelist Lukas auch Maler gewesen sei. Ein Maler, der schöne Bilder gemalt habe, unter anderem auch einige Ikonen mit dem Bild der Gottesmutter Maria, so wie jene in Santa Maria Maggiore in Rom.

Was daran wahr ist, kann man nicht sagen, aber wenn man das Evangelium des Ostermontags im Ohr hat, dann kann man die Legende verstehen. Lukas, der diese Geschichte am Ende seines Evangeliums erzählt, beschreibt den Gang der beiden Jünger ganz bildhaft: ihre Traurigkeit, ihre Gespräche, ihre Begegnung mit dem Auferstandenen, den sie nicht erkennen, dann das gemeinsame Essen – er beschreibt alles so anschaulich, dass jeder von uns das irgendwie auch selbst vor Augen hat, als hätte er ein Bild davon oder sogar einen Film darüber gesehen. 

Die Emmausgeschichte – so würde man heute sagen – ist ein echter Renner geworden in der Kirchengeschichte, ein Topseller, und bis heute reißen sich in Israel gleich mehrere kleine Dörfer in der Umgebung von Jerusalem darum, das historische Emmaus zu sein – darunter nicht erstaunlich Moza, Abu Gosh und andere Ortschaften. Der Name Emmaus bedeutet „Quellen“ oder „heiße Quellen“. Es geht also um die Quellen unseres Glaubens, wo und auf welche Weise sie alle entspringen.

Aber die genaue lokale Ortung braucht uns nicht interessieren. Wir sind ja keine Archäologen, und Lukas wollte auch keinen Reiseführer schreiben, sondern ein Evangelium, eine Botschaft. Er hat in diese Geschichte tatsächlich eine Botschaft gepackt, die immer gültig ist. Er hat den Weg der Jünger als Weg aller späteren Christen beschrieben, auch als unseren Weg.

Das Bild, das der Evangelist zeichnet, ist so vielfältig, dass man etwas auswählen muss, um es heute zu sehen. Ich nenne nur vier Züge dieser Geschichte:

1. Die beiden Jünger gehen von Jerusalem weg, dem Ort der größten Sehnsucht, der zu ihrer tiefsten Enttäuschung wurde. Sie reden miteinander und tauschen ihre Meinungen aus zu dem, was sie erlebt hatten. Sie sind traurig. Lukas sagt: Sie sind skythropoí, gehen mit einer „finsteren Miene“. Das griechische Wort kann Traurigkeit, Schmollen, schlechte Laune und Verwirrung bedeuten. Das Gespräch  ü b e r  Jesus und sein Schicksal hilft ihnen aber nicht. Auch zu zweit, auch zu mehreren finden sie nicht heraus aus der Traurigkeit und können den Knoten nicht lösen. 

Sie reden in der Vergangenheitsform: „Er  w a r  ein Prophet…“, „Wir aber h a t t e n  gehofft…“ Sie reden, was früher war und müssen erst sehen lernen, das Präsens lernen, seine Wegbegleitung, seine Gegenwart.

Erst das Gespräch  m i t  ihm wird ihnen helfen. So ist für alle kommenden Generationen geblieben. Erst das Mit-ihm-sein, das Mit-ihm-reden und Zu-ihm-reden macht sie sehend. „Beten schenkt Heimat“ war ein bisschen ein betulicher Verlagstitel für ein Buch von Gerhard, in dem er diese Erfahrung als seine Erfahrung weitergibt, eine Erfahrung Jesu und der Kirche. Beten ist nicht der Rückfall in den religiösen Individualismus, sondern die Wahrnehmung einer Präsenz, die uns erst gemeinschaftsfähig macht. Die Jünger müssen mit  i h m und zu  i h m   reden, und er redet mit ihnen.

2. Dann folgt das Gespräch über die Schrift: „Und [Jesus] legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht.“ Die beiden Jünger sind „unverständig“, wie Lukas betont, a-nous, „bar jeder Intelligenz“, wie ein Kommentator übersetzt hat, ohne Fähigkeit, was die Aktualisierung der Schrift angeht. 

Jesus behebt gleichsam diesen Mangel, indem er die verworrene Geschichte durch die Schrift Israels, den Tanach, aufschlüsselt, decodiert. Theologie als Schriftauslegung. Theologie ist weder Spekulation noch Theorie einer Strategie zum Gemeindeaufbau oder zur Kirchenentwicklung. Sie ist Erfahrungswissenschaft, so wie wir es in der Einführung zum Gottesdienst mit den Worten von Gerhard gehört haben. Wie Theologie aus der Liebe zur Schrift und aus ihrer Kenntnis lebt, gehört zur Kirche auch die Liebe zu Israel, zum jüdischen Volk der Geschichte und zum bedrohten und angefeindeten Israel der Gegenwart, von dem Papst Benedikt XVI. kühn sagte, seine moderne Existenz sei ein Zeichen der verborgenen Treue Gottes.

3. Als drittes fällt das Essen auf, das Mahl, auf das der erste Bogen der Erzählung zuläuft. Der Wanderer, der Gast, wird paradoxerweise in der nahen Wirtschaft zum Hausvater, der den Segen spricht und das Brot bricht. Nicht die Jünger setzen eine Mahlfeier an, nicht sie laden ein, sondern der vermeintlich Eingeladene lädt sie ein. Das ist Maß für alle Zeiten der Kirche und jeder Gemeinde. 

Brotbrechen wird dabei zu einem Schlüsselwort für die Gemeinschaft, deren Werden Lukas in der Apostelgeschichte erzählt. Es erinnert an das letzte Mahl Jesu mit den Jüngern und wird das erste in der Reihe der Gemeindemahlzeiten, einer nie unterbrochenen Reihe, die bis in unsere Versammlung heute reicht. Die Geschichte erhält quasi einen eucharistischen Rahmen für die werdende Kirche. Lukas erwähnt dann keine weitere Handlung Jesu mehr. Den Jüngern muss das genügen. Im Sakrament sind sie zum endgültigen Sehen und Verstehen gekommen. Jetzt geht sozusagen alles auf: zuerst die Augen, dann das Herz, dann die durch den Auferstandenen erklärten Schriften.

4. Und zuletzt: Die Begegnung mit Jesus, die Lukas hier berichtet, endet nicht euphorisch, sondern in die Versammlung der Jünger hinein. Die Jünger bleiben nicht beim Mahlfeiern. Sie kehren zurück nach Jerusalem. Es bleibt ihnen zuerst gar keine Zeit, von  i h r e r  erstaunlichen Erfahrung zu erzählen, denn die versammelten Elf haben ihrerseits schon verstanden: „Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen.“ Leise klingt schon die Struktur der Kirche durch: die Versammlung, mit Petrus als erstem, als Fels des Glaubens. Die reale Versammlung der Glaubenden ist eines der Kennzeichen der Kirche, das sie theoretisch hat, das ihr aber in Wirklichkeit so oft fehlt. Auch davon zeugt der Weg Gerhards, der sich ihr, als er sie vorfand, ganz anvertraute. Das ermöglichte sein Schreiben, machte ihn bekannt. Andere – wie immer – irritierte es. 

Das sind vier Züge einer Geschichte, die sozusagen am Ende des Lebens von Gerhard steht:

  • Mit Jesus reden, beten, anbeten. 
  • Die Schrift als heutiges Maß auslegen, die Schrift und Erfahrung Israels.
  • Die Eucharistie, die die Kirche nicht nur „hat“, sondern die die Kirche aufbaut. 
  • Und die Versammlung, ein freier und solidarischer Verbund mitten in der Welt, um sie zu verwandeln, eingefügt in die Kirche aller Orten 

– das hat Lukas in diese Geschichte hineingelegt.

Das ist, was uns aus dieser Ostergeschichte entgegenkommt und – wie der Evangelist Johannes am Ende  s e i n e s   Berichts schreibt, „noch viel mehr, was nicht in diesem Buch aufgeschrieben ist“. 

Es ist auch das, was Gerhard erfahren, gelebt und uns gelehrt hat. Sein „ordentliches Leben“ ist dadurch in gewissem Sinne durcheinandergeraten. Er war eben nicht nur akkurat, sondern – und das hat ihn aus der akademischen Ordnung herausgehoben – auch mutig. Es hat ihn in eine neue Ordnung gebracht, zum Segen für viele.

In dieser Feier erinnern wir uns nicht nur an ihn, sondern wir  d a n k e n  – das bedeutet ja „Eucharistie“ –, wir danken dem, der Gerhard den Weg der Jünger geführt hat und der auch jeden und jede von uns heute ruft und führt und der – hoffentlich – auch uns die Augen aufmacht, um unsere Geschichte zu verstehen und in seiner Gegenwart zu leben.

Evangelium Lk 24,13-35  |  Achim Buckenmaier, 13. April 2024