Letzte Generation - oder was sonst?

Ostersonntag - Homilie:

Seit zwei Jahren macht die sogenannte „Letzte Generation“ von sich reden. Mit radikalen Aktionen macht sie auf sich bzw. auf das, was ihre Anliegen sind, aufmerksam.  Und tatsächlich kennt jeder von uns die Bilder mit Leuten, die sich auf der Straße festkleben oder die markante Gebäude mit Farbe beschmieren.  Der Diskurs um die Bedrohung der Welt und um die Zulässigkeit auch extremer Mittel des Protestes ist das eine. 

Etwas anderes ist, was sich in diesem Namen verbirgt – „Letzte Generation“. In England begannen diese Protestaktionen unter dem programmatischen und entschlossenen Namen „Extinction Rebellion“, Aufstand gegen das Aussterben. In Deutschland hat es etwas die pessimistische Variante angenommen: wir werden die letzte Generation sein, wenn wir nichts unternehmen.

Und es ist tatsächlich so: Die Aktionen sind geprägt von einer gewissen Aggressivität, die letztlich aus einer tiefen Traurigkeit herrührt. Traurigkeit, Schwermut und Niedergeschlagenheit nicht nur, weil der Planet Erde so zerstört wird, sondern auch, weil wir scheinbar so unbeeindruckt davon sind, weil die Mehrheit so weiterlebt wie bisher.

Es ist wenig darüber nachgedacht worden, was das eigentlich bedeutet, wenn man sich als die „Letzte Generation“ bezeichnet, wenn man damit rechnet, dass wir diejenigen sind oder zumindest sein können, die das Licht ausknipsen am Ende.  Und die Kirche selbst scheint ja auch von diesem Gefühl erfasst zu sein. Nur mit frommen Worten erwarten wir die Rettung der Welt von Jesus Christus und seiner Auferstehung und der Verkündung des Evangeliums. In Wirklichkeit wird in den Ämtern der Kirche vor allem auf eMobilität, Diversität und die Begrünung der Kirchendächer gesetzt, um die Welt zu retten.

Und vielleicht ist das Ausbleiben einer Reflektion dessen, was „Letzte Generation“ bedeutet, an diesem Ostern auch eine Hilfe für uns. Denn Ostern ist geradezu ein positiver Gegenentwurf zur Resignation und Aggression. Wir haben in der ersten Lesung aus einer langen Rede des Apostels Petrus gehört, in der er die ganze Geschichte Jesu rekapituliert.

„Ihr wisst, was im ganzen Land der Juden geschehen ist, angefangen in Galiläa…“

Bis er das Ende erwähnt: „Ihn haben sie an den Pfahl gehängt und getötet.“

Petrus erzählt in ein paar Worten die Lebensgeschichte und das Schicksal Jesu. Am Ende hatte es für sie bedeutet, auch ein verlorene, eine letzte Generation gewesen zu sein. Zwei Jahre lang mit Jesus durch Israel gezogen. Alles hinter sich gelassen, Familie, berufliche Sicherheit, guten Ruf. Dann alles verloren. Mit der Hinrichtung Jesu alles von den religiösen und politischen Autoritäten als Betrug entlarvt und verurteilt. 

Was die Auferstehung Jesu von den Toten war, wird nirgends im Neuen Testament beschrieben. Nur die Wirkung wird erzählt. Die Jünger, die Frauen und Männer um Jesus herum, blicken auf die Katastrophe ihres Lebens zurück, sie blicken auf den Tod Jesu am Kreuz zurück, sie blicken auf seine Taten und Worte zurück, sie schauen auf das letzte Abendmahl mit ihm und sie verstehen plötzlich ganz neu: Wir sind nicht die Generation eines Endes. Wir sind vielmehr Teilnehmer an einem Anfang. Nicht letzte Generation, sondern heutige Generation, oder – wie es später die Kirchenväter sagen werden – eine neue Generation, ein neues Geschlecht. Das wurde das Lebensgefühl der ersten Christen.

In dem Bewusstsein, dass sie nicht letzte Generation des Endes, sondern Teilhaber eines Anfangs sind, haben sie den kommenden Generationen zwei Dinge mitgegeben.

Das eine ist das Erbe Israels, das Erbe des jüdischen Landes. Petrus hat es eben in diese Worte gefasst, die wir gehört haben: „Ihr wisst, was im ganzen Land der Juden geschehen ist, angefangen in Galiläa…“

Israel, das jüdische Land, ist das Land Jesu und deswegen das Land, von dem wir herkommen. Das ist vielleicht an diesem Ostern ganz neu zu hören und neu zu sagen. Bei allen Diskussionen, die man auf politischer Ebene führen kann, ist Israel der Ort einer Erfahrung und das jüdische Volk der Träger einer Geschichte, ohne die es uns Christen nicht geben würde.  Von diesem Volk haben wir nicht nur – um es einfach zu sagen – Jesus bekommen, sondern auch das Alte Testament und alle seine Weisheit über den Menschen und die Welt. 

Blättert man durch die Bibel und durch die Weisheit der nachbiblischen Literatur des Talmud, der Rabbinen und der jüdischen Gelehrten, der meist armen und bedrängten Weisen, dann begegnet man einer großen Liebe zur Welt, einer Freude am Dasein auf dieser Erde, einer Freude, tätig zu werden und Verantwortung zu übernehmen. In der Welt zu leben wie ein Geschäftsmann oder eine Unternehmerin und für Gott dieses Geschäft der Gestaltung, der Formung und Reparatur der Welt zu betreiben, das ist das Gegenteil von Passivität, aggressiver Verzweiflung oder Weltflucht. Und auch zu wissen, dass ein solches Leben immer einen Preis kostet, ein Risiko ist und mit Leiden verbunden sein wird. Die Freude an der Welt und auch die Bereitschaft für diese Geschichte arbeiten und zu leiden, dürfen wir Christen aus dieser Erfahrung Israels lernen.

Die Atheisten der Welt können sich nur freuen, wenn wir Christen auch traurig sind, weil dies oder jenes nicht mehr so ist, wie vor fünfzig Jahren. Der Unglaube wird sich leicht verbreiten, wenn wir noch viel mehr als die Klimakleber an unseren Gewohnheiten kleben, dass der Pfarrer das und die Verwaltung jenes machen muss, weil es „schon immer so war“ oder ich es eben „immer schon so gemacht habe“.  Das Evangelium würde durchgestrichen für unsere Gesellschaft und zutiefst unglaubwürdig, wenn uns als die letzte Generation einer sterbenden Kirche ansehen.

Das gibt uns die erste Generation der Christen, das gibt uns Petrus als Mahnung mit.

Und als zweites vertraut er uns eine Grunderfahrung der ersten Christen an: „Gott aber hat [Jesus] am dritten Tag auferweckt und hat ihn erscheinen lassen, (…) uns, die wir mit ihm nach seiner Auferstehung von den Toten gegessen und getrunken haben.“

Die Frauen und Männer der ersten Generation haben verstanden, dass das sogenannte Letzte Abendmahl Jesu nicht das letzte Mahl einer letzten Generation war, sondern das erste Mahl einer unaufhörlichen Reihe durch alle kommenden Generationen bis auf den heutigen Tag, vom Obergemach in Jerusalem bis in diesen Saal der Stiftskirche hinein. Deswegen ist jede Erstkommunion, die wir in diesen Wochen in unseren Kirchen feiern, wie eine kleine Gegendemonstration: dass auch in dieser Generation mit Jesus gegessen und getrunken wird und er mit ihnen sein wird – wenn sie es wollen.

Die Apostelgeschichte, aus der die Rede des Petrus, genommen ist, erzählt vom alles überraschenden Wachstum der Gemeinden, von einem unerwarteten Weg der ersten Kirche. Ihre Herzmitte war die gegenseitige Solidarität, sodass es keine Armen unter den Christen gab, das gemeinsame Gebet, das Festhalten an der Lehre der Apostel und das Essen und Trinken in der gemeinsamen Versammlung.

Und anders wird es auch heute nicht gehen. Die Kirche ist nicht eine Organisation, die wir nach unseren Maßstäben optimieren müssten. Sie ist eine Versammlung und der Ort der Begegnung mit dem Auferstandenen, oder sie ist nicht Kirche. Sie wird nicht durch Papiere und Voten lebendig, sondern durch unser treues Zusammenkommen jede Woche, jeden Sonntag, auch durch Sprechen und Überlegen, aber nur, wenn es getragen ist vom Gottesdienst. Die höchste Form ist die Eucharistie, die Messfeier, denn im Essen und Trinken erscheint uns der Auferstandene. Die Eucharistie ist nicht eine Form unter anderen, zu der man geht, wenn man eine Aufgabe hat, sondern der Erscheinungsort Jesu, sozusagen ein heiliger Boden, wo man wie Mose die Schuhe ausziehen muss, die Schuhe unserer Aktivität und unserer Vorstellungen, um seine Stimme hören und ihm begegnen zu können.

Umso mehr wir die Kirche machen wollen, um so mehr werden wir ihre “letzte Generation“ sein. Kirche ist kein Projekt, das wir entwickeln. Die Kirche ist kein Gefühl und auch keine Sitzung. Sie ist zu allererst eine festliche Versammlung. Sie ist ein Fest. Sie ist ein Fest, auch heute, weil der Herr auferstanden ist, wahrhaft, wirklich auferstanden ist und in ihr lebt. Sie ist Garantin der kommenden Welt und Rettung der heutigen.

Ostersonntag, 31. März 2024  |  Hechingen St. Jakobus  |  Lesungen: Apg 10, 34a.37-43; 1 Kor 5,6b-8; Evangelium: Joh 20,1-9  |  Achim Buckenmaier