Gott handelt (weiter) in der Geschichte

Zweiter Advent (C) - Homilie:

Ich möchte heute nur zwei Gedanken zu den Schriftlesungen dieses zweiten Adventssonntags anfügen. Der erste Gedanke bezieht sich auf das Evangelium, das wir gerade gehört haben. Die zweite Bemerkung greift ein Wort aus dem Brief an die Philipper auf, aus dem heute die neutestamentliche Lesung genommen war.

Zum ersten: Sie wissen, wenn ein öffentliches größeres Gebäude gebaut wird, eine Schule, ein Krankenhaus oder auch eine Kirche, dann wird oft bei der Grundsteinlegung eine verschlossene Kassette oder Rolle in das Fundament gelegt. Dort sind nicht nur diejenigen aufgeschrieben, die den Bau in Auftrag gegeben haben und die ihn durchführen, sondern auch die Zeitumstände, wer in dieser Zeit regiert hat, wer Bundeskanzler war, Ministerpräsident, bei kirchlichen Gebäuden der Papst, der zuständige Bischof, der Pfarrgemeinderat und so weiter. Für spätere Generationen soll der Kontext, der geschichtliche Rahmen beschrieben werden. Was für Leute waren es, die diesen Bau errichteten, wie sie gelebt haben. Das erfährt man auch durch die Nennung der Personen, die zu der Zeit wichtige Ämter und Verantwortung hatten.

Genau so macht es auch der Evangelist Lukas, wie wir es gerade im Evangelium gehört haben. Er beginnt seinen Bericht über das Auftreten Johannes des Täufers, indem er sechs zeitgeschichtliche Namen von Personen nennt, die damals regiert haben: Kaiser Tiberius, sein Präfekt Pontius Pilatus, Herodes, der Landesherr von Galiläa und weitere Landesfürsten, dazu die Hohenpriester, Hannas und Kajaphas.

Diese sechsfache historische Einordnung entspricht ganz dem Anliegen des Autors des Evangeliums. Der Evangelist Lukas macht das bewusst, um zu zeigen, dass diese Geschichte von Jesus nicht ein Mythos, eine Erfindung, ein schöner Roman oder ein Märchen ist, sondern sich tatsächlich zugetragen hat. Im Vorwort zu seinem Evangelium sagt Lukas seinem Leser, dass er ihn von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen möchte. 

Dass glaubhaft ist, was Lukas von Jesus erzählt, wird in dem Kapitel über auf Aufreten des Täufers auch an der Nennung der Herrscher und religiösen Verantwortlichen sichtbar. Unser Glaube an Gott beruht also auf einer konkreten Geschichte, nicht auf Gefühlen und Empfindungen. Er beruht auf tatsächlichen Erfahrungen von Menschen, die vor uns gelebt haben. 

Viele Zeitgenossen heute sagen, sie bräuchten die Kirche nicht und auch nicht den Gottesdienst, um an Gott zu glauben und ein guter Mensch zu sein. Sie gingen lieber spazieren oder setzen sich aufs Sofa und hörten eine gute Musik an. Gott sei Dank ist das möglich. Glücklicherweise gibt es solche ernsthaften Menschen. Die Welt lebt von vielen solcher Menschen, die ohne Kirchenzugehörigkeit und ohne Kirchenbesuch für Frieden und Gerechtigkeit eintreten, die solidarisch und aufmerksam leben.

Aber die Geschichte Gottes mit Israel, die Geschichte Jesu, die findet man eben nicht im Wald und auch nicht in unseren Empfindungen. Wir haben sie nicht aus uns, sondern haben sie gelernt. 

Die Gebote, die Mose von Gott erhalten hat, sind ja oft gegen unsere eigentlichen Leidenschaften und unseren Willen, und gerade deswegen sind sie gut und hilfreich. 

Die Kraft, die Welt zu verändern und das Schlechte nicht einfach hinzunehmen, die haben wir nicht einfach aus uns, so wenig wie die Maßstäbe für das, was gut oder böse ist.

Die Bereitschaft, auch Korrektur hinzunehmen und die Fähigkeit zur Selbstkritik sind uns nicht von Natur aus angeboren. 

All das und noch mehr, was unser Leben ausmacht und uns hilft, recht zu leben, ist nicht vom Himmel gefallen und auch nicht in unseren Gedanken entstanden. Wir haben es gelernt. 

Der Gottesdienst und auch die Sakramente sind Orte, wo wir diese Geschichte hören und sie lernen. Deswegen ist der christliche Gottesdienst nicht eine Wohlfühlveranstaltung, sondern eine Stunde, in der diese Geschichte erzählt und wachgerufen wird, die Geschichte Jesu, die Geschichte Israels, des jüdischen Volkes. Darum heißt es in der Mitte der Messe, der Eucharistiefeier, bewusst: „In der Nacht, in der er [Jesus] verraten wurde…“ Da wird eine Sache genau angegeben. In der Nacht vor dem Pessachfest, im Jahr 30, in der Stadt Jerusalem. Es wird nicht etwas erzählt, was irgendwann und überall passiert ist, sondern zu einer bestimmten Stunde, an einem bestimmten Tag geschehen ist, in einem bestimmten Jahr an einem konkreten Ort mit genau benannten Personen. Die Berichte vom Leben und Sterben Jesu wurden schon bald nach Jesu Tod erzählt und niedergeschrieben. Sie haben die Absicht, den Glauben an Jesus zu wecken und zu stärken, aber sie gründen auf zuverlässigen Quellen und Berichten. Nur zwei, drei Jahrzehnte nach Jesus wäre es anders auch nicht möglich und glaubhaft gewesen.

Auch die Liturgie der Kirche hat solche geschichtlichen Quellen. Sie ist nicht einfach aus der Kreativität der Leute entstanden, die mal das, mal jenes zusammengestellt haben. Das kann ganz deutlich an der zweiten Lesung dieses Adventssonntags zeigen. Das ist der zweite Gedanke für heute.

Der Apostel Paulus hat einen Brief an die Gemeinde in Philippi geschrieben, an eine christliche Gemeinde im Norden Griechenlands. Aus dem Anfang dieses Briefes war der Abschnitt der zweiten Lesung heute genommen. Und da schreibt Paulus: „Ich vertraue darauf, dass er, der bei euch das gute Werk begonnen hat, es auch vollenden wird bis zum Tag Christi Jesu.“

Es ist also wieder derselbe Gedanke: Gott handelt. Mit dieser ersten christlichen Gemeinde auf dem europäischen Kontinent, in Mazedonien, in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhundert. Er hat mit diesen bestimmten Leuten etwas begonnen, ein gutes Werk. Und er wird es vollenden, d.h. er lässt seine Sache nicht im Stich. Er lässt uns nicht hängen. Das ist ein so fundamentaler Gedanke für unser Leben, dass er auch in die Sakramente eingegangen ist. 

Genau diese Worte, die Paulus an die Christen in Philippi vor 2000 Jahren geschrieben hat, sagt der Bischof im Weihegottesdienst jedem Kandidaten, der bereit ist, zum Priester oder zum Diakon geweiht zu werden. Nachdem jeder Kandidat einzeln seine Bereitschaft erklärt hat, diesen Dienst zu übernehmen, sagt der Bischof jedem einzelnen: „Gott selbst vollende das gute Werk, dass er in dir begonnen hat.“ Also buchstäblich die Worte des Paulus.

Und genauso ist es bei der kirchlichen Trauung. Wenn sich Mann und Frau das Ja-Wort gegeben und sich die Treue versprochen haben, sagt der Priester oder der Diakon: „Gebt einander die rechte Hand. Gott, der Herr hat euch als Mann und Frau verbunden. Er ist treu. Er wird zu euch stehen Und das Gute, dass er begonnen hat, vollenden.“ Es ist also nicht nur von der Liebe und von den guten Vorsätzen der Brautleute die Rede, sondern vom Handeln, Gottes. Dass in dieser Stunde etwas mit diesen beiden begonnen hat und Gott nicht aufhören wird, sie zu begleiten und es zu vollenden, wenn sie es wollen.

Und zuletzt: Auch bei der christlichen Beerdigung, am Grab kommt das Wort vor. Der Zelebrant sprengt Weihwasser auf den Sarg, und auch da sagte er oder sie: „Der Herr vollende an dir, was er in der Taufe begonnen hat.“

Dieser eine Satz des Paulus, den er vor zwei Jahrtausenden an eine kleine Gemeinschaft von Christen geschrieben hat, hat also eine unendliche Wirkung entfaltet. Er prägt das Leben der Christen, ob wir Priester sind, unverheiratet oder verheiratet. Er durchzieht wie ein roter Faden diese drei kirchlichen Feiern an wichtigen Punkten.

Dass Gott mit uns etwas Gutes begonnen hat, indem wir in der Taufe Glieder der Kirche geworden sind, das ist der Inhalt des ersten Teils dieses Satzes. Und dass Gott eben nicht aufhört, mit uns zu arbeiten und unser Leben zu prägen, wenn wir wollen, wenn wir es zulassen, das ist der zweite Teil. Er hat mit der Kirche, ja schon mit dem jüdischen Volk, eine enorme Geschichte, ein gutes Werk begonnen, eine Arbeit, die nützt und Gewinn an Leben bringt und die er weiterführt.

Das ist wirklich eine Sicherheit, die man nicht im Wald oder auf der Couch findet oder in sich drin hört. Sie wird uns immer wieder gesagt und wir hören Sie im Gottesdienst und in Feier der Sakramente. Deswegen ist im Gottesdienst von Gott die Rede, mehr als von uns und von dem, was wir machen, was wir vielleicht empfinden, fühlen und denken. Unser Empfinden, Fühlen und Denken wird reicher und weiter, wenn wir einen solchen Satz aufnehmen: „Ich vertraue darauf, dass Gott, der das gute Werk bei euch begonnen hat, und es auch vollenden wird.“ Genau das ist uns als Gemeinschaft heute Morgen/Abend, als Kirche gesagt und zugleich jedem und jeder von uns: „Ich vertraue darauf, dass Gott, der das gute Werk bei euch begonnen hat, es auch vollenden wird.“ Etwas Besseres können wir eigentlich nicht hören.

Zweiter Advent C | Ringingen St. Michael; Jungingen St. Silvester  |   Lesungen: Bar 5,1-9; Phil 1,4-6.8-11; Evangelium: Lk 3,1-6  |  Achim Buckenmaier