Aufrecht
Erster Advent (C) - Homilie:
Mit den Liedern, den Kerzen und dem Adventskranz sind wir in den Advent eingetreten. Aber unsere Versammlung heute Abend/heute Morgen unterscheidet sich wesentlich von der Sentimentalität der Weihnachtsmärkte und Glühweinstände. Die Liturgie hat drei biblische Texte ausgewählt, die beiden Lesungen und das Evangelium, die eigentlich auf den ersten Blick ganz unadventlich sind.
Im Evangelium haben wir die letzte Unterhaltung Jesu mit seinen Jüngern gehört, bevor er verhaftet wird. Jesus sieht nicht nur die Auseinandersetzung und den Tod vor sich, sondern auch, dass die Jünger ohne ihn werden leben müssen. Und deswegen gibt er Ihnen noch einmal Hinweise und Mahnungen, um zu verstehen, was kommen wird. Jesus zeichnet eine Art kosmische Katastrophe: die Kräfte der Himmel sind erschüttert, also es ereignet sich nicht nur ein Erdbeben, sondern überhaupt die Welt wackelt und bebt. Das Meer tobt und überschwemmt das Land. „Und die Menschen werden vor Angst vergehen.“ Die Bibel ist überhaupt sehr nüchtern und sie ist tatsächlich voll von dem, was in der Welt ist, von Kummer, Gewalt, Seufzen, Tränen und so weiter.
Wenn man heute in die Welt hineinschaut, dann empfindet man, dass diese Bilder keine bloßen Utopien sind oder Drohkulissen aufbauen. Konflikte und Katastrophen kennzeichnen unserer Zeit. Und was sich im Großen abspielt, spielt sich auch im Kleinen ab. Schicksalsschläge, Probleme der Älteren mit den Kindern und der Kinder mit den Alten, Unfrieden in der Gesellschaft, im Dorf, in der Stadt, Sorgen, Krankheit, Angst und so weiter. All das verschwindet ja nicht, weil wir ein paar Lichterketten um den Balkon wickeln oder einen Stern ins Fenster hängen.
Wie reagieren wir darauf? Wie finden wir uns in dieser Welt zurecht? Was ist zu tun angesichts der Bedrängnisse und Gefahren?
Eine Antwort darauf ist Aktion. Die Probleme sind (und waren zu jeder Zeit) so groß, dass man sie mit der Brechstange lösen will. Weil nie alle Menschen einsichtig sind, muss man sie zwingen. Statt zu resignieren, setzt man auf Macht und Gewalt; es sind aggressive Antworten aus Ungeduld und Anspannung. Das ist die Methode vieler revolutionärer Bewegungen. Weil man die Menschen nur schwer überzeuge kann, enden diese Bewegungen meist in Terror und Diktatur.
Auf der anderen Seite steht der Rückzug aus der Welt. Weil die Lage der Welt so bedrohlich und ausweglos erscheint, zieht man sich als kluger Mensch zurück, um seine Ausgeglichenheit und seinen inneren Frieden nicht zu verlieren. Der antike Weise, der Philosoph, kennt nur seinen eigenen Platz und sucht sein Glück und seine Zufriedenheit. „Geh mir aus der Sonne“, sagt Diogenes, einer der Philosophen zu Alexander dem Großen. Er will in Ruhe und ungestört in der Sonne sitzen. Die sogenannten Stoiker in der griechischen Philosophie haben diese sprichwörtliche „stoische Ruhe“ zum höchsten Ideal gewählt, um das eigene Glück zu finden.
In den östlichen Religionen zieht man sich in die Meditation zurück oder ins Geistige oder ins Jenseits, um sich nicht vom Menschlichen, vom Leid berühren zu lassen, um sich nicht mit den Auseinandersetzungen und Leidenschaften zu beschmutzen. Und durch dieses Zurückziehen aus der Welt will man den wahren Frieden finden. Frieden wenigstens für sich und in sich.
Der Glaube der Menschen in der Bibel ist ganz anders. Er ist nüchtern, beschönigt nichts, aber resigniert auch nicht, obwohl es in der Welt so zugeht, wie es zugeht und das Böse und Schlechte sich anscheinend ausbreiteten. Er steht der Welt nicht gleichgültig gegenüber, sondern mit dem Willen, sie zu gestalten, umzuwandeln und zu erneuern. Die Lebensweise derer, die an Gott glauben, ist weder aggressiv noch depressiv. Wir begegnen ihr in dem erstaunlichen Satz Jesu, der heute mitten in diesen Endzeitszenarien des Evangeliums steht:
„Wenn das beginnt, dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter.“
Da ist ein ganz anderer Ton zu vernehmen, ein positiver Ton, ein optimistischer Klang. Das Wort aufrichten – „richtet euch auf!“ – kommt noch an einer anderen Stelle im Lukas-Evangelium vor. Jesus begegnet einmal einer Frau, die ganz gekrümmt ist, deren Rücken gekrümmt ist, die in sich verkrümmt ist. Da heißt es auch, dass Jesus sie wieder aufrichtet, damit sie geradestehen kann, damit sie wieder in die Weite blicken kann, weiter als über den Boden vor ihren Füßen. Das meint also „aufgerichtet werden“. Es ist also nicht nur ein inneres sich Aufrichten. Es geht an unsere Existenz, an unser konkretes Leben. Das ist etwas Typisches für die Bibel, für den jüdischen und christlichen Glauben: dieser Optimismus, eine Zuversicht, ein Aufgerichtetwerden und ohne Furcht, ohne Gewalt und ohne Lähmung in die Welt schauen, so wie sie ist.
Der Glaubende kann so leben, weil er weiß: Der „Herr ist unsere Gerechtigkeit“, so wie es der Prophet Jeremia in der heutigen Lesung gesagt hat. Gott i s t Recht und Gerechtigkeit. Das ist die Sicherheit eines Menschen, der an Gott glaubt. Dass der Glaubende in der Bibel weiß, dass es Gott gibt, dass er seine Gebote und Weisungen kennt, dass er weiß: Es gibt ein Gesetz „Tu dies und lasse das andere“ – das ist für ihn ein Anker und eine Sicherheit. Der Glaube an diesen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zeigt dem Menschen ein Maß und gibt ihm damit auch den Mut zu handeln.
Der Glaube, den das jüdische Volk Stück für Stück gelernt hat, erkennt: Diese Nöte, die Krisen, die Tragödien, diese Welt, so wie sie ist, sie fragen u n s, wie wir leben. Die offenen Fragen und die großen Probleme der Welt festigen uns in dem Willen, dem Elend in der Welt zu widersprechen, das Böse und Falsche nicht hinzunehmen und zu handeln. Jesus war genau aus diesem Holz. In seinen Worten findet das ein Echo: „Richtet euch auf und erhebt eure Häupter!“
Jesus ist zuversichtlich, dass man aufrecht stehen und die Welt sehen kann und dass man mit Gott handeln kann. Es ist eine Zuversicht, die auch das eigene Leben umfasst, die mein eigenes Dasein, so wie es ist, bejaht. Mein Leben, so wie es geworden ist, ist der Weg zu Gott, ist der Stoff, ihn zu loben und ihm zu dienen, „ihm zu gefallen“, wie Paulus sagt, indem ich nach seinen Weisungen leben. Ich brauche nicht warten, bis ich perfekt und vollkommen bin. Je mehr ich mit der Gemeinschaft der Kirche verbunden bin – Paulus sagt, „vollkommener in ihr lebe“ – umso mehr wird sich auch mein Leben verändern, trotz aller Schwächen und Unvollkommenheiten und Problemen.
Deswegen passt es heute, dass das Singen und der Chor in unserem Gottesdienst eine Rolle spielen und wir all derer gedenken, die vor uns hier den Gottesdienst getragen haben, die gesungen und gefeiert haben. Singen kann man nicht, wenn man nach unten schaut und in sich selbst gekrümmt ist. Eine Stimme hat man nur, wenn man nach oben schaut, aufrecht, wenn man geradeaus schaut. Die Lieder und die Musik im Gottesdienst helfen uns zu dieser Haltung. Sie können auch einmal Trauer und Sorge ausdrücken. Aber ihr Grundton ist das Vertrauen in die Gegenwart Gottes und so in die Zukunft, das Lob Gottes, weil er „unsere Gerechtigkeit“ ist und weil er da ist in unserem Leben und weil er die Kirche im Leben erhält, auch wenn klein geworden ist und wackelt und schlecht angesehen ist.
Der erste Advent, der Beginn des Neuen Kirchenjahres, sagt uns, dass Gott selbst zuversichtlich ist, und dass er in der Welt handelt und handeln möchte, damit es Frieden und Gerechtigkeit gibt. Es ist die Zeit, in der wir das Falsche, Unversöhnte, Hartherzige, das, was uns oder einen anderen niederdrückt und krümmt, angehen – mit dem Optimismus Jesu: „Richtet euch auf und erhebt eure Häupter!“
Erster Advent C, 30. November/1. Dezember 2024 | Melchingen St. Stephan; Stetten u. H. St. Silvester (mit den Kirchenchören) | Lesungen: Jer33,14-16; 1 Thess 3,124,2; Evangelium: Lk 21,25-28.34-36 | Achim Buckenmaier