Wichtige Witwen
32. Sonntag im Jahreskreis B - Homilie:
Das Evangelium vom heutigen Sonntag und die erste Lesung aus dem Buch der Könige sind eines der wenigen Beispiele, wo die Zuordnung von Altem Testament und Neuem Testament in der Liturgie wirklich gelungen ist.
Im Zentrum der beiden Texte steht jeweils eine Frau, eine Witwe. Da ist die Geschichte von der Witwe von Sarepta, die den Propheten Elija mit dem Letzten, was sie hat, unterstützt. Sarepta liegt gar nicht im heutigen Israel, sondern einige Kilometer südlich von Beirut und war eine phönizische Siedlung. Man sieht schon, wie groß die Not des Propheten Elija war, dass er so weit in den Norden ausweichen musste, um der Verfolgung seiner Gegner, vor allem der Königsfamilie, zu entgehen und wie entscheidend die Hilfe dieser Witwe war. Und dann hören wir im Evangelium die Geschichte von der armen Witwe, die ihr letztes Bargeld dem Tempel in Jerusalem gibt.
Im Orient der Antike und heute noch in patriarchalen Gesellschaften bedeutet Witwesein eine äußert schwierige Lebenslage. Es gab oder gibt keine Rente, es fehlt der Schutz des Mannes nach außen, oft auch die rechtlichen Möglichkeiten, sich zu verteidigen oder das Leben eigenständig zu führen. Die Verwandten des Mannes haben vielleicht ein Auge auf den Besitz, die Hinterlassenschaft, das Haus und so weiter. Das war die Lage der Witwen in vielen Gesellschaften.
Jesus beobachtet also eine solche Frau, eine Witwe. Man sieht an ihrer Kleidung, dass sie arm ist und dass sie Witwe ist, als sie in den Vorhof des Tempels in Jerusalem kommt, des Teiles, der den Frauen vorbehalten war. Dort stehen Opferkästen, in die die Leute Geld hinein tun, Zuwendungen an den Tempel und die Priester, damit es den Gottesdienst gibt, das Lob Gottes jeden Tag erklingt, und damit es die Unterweisung, die Lehre der Tora, ein Theologiestudium sozusagen, gibt, damit der Glaube Israels an die nächste Generation weitergegeben werden kann.
Jesus sieht zu, wie die verschiedenen frommen Menschen kommen und sie unterschiedlich viel Geld opfern, also investieren, manche mit dem Scheckbuch, andere eben nur ganz wenig. Und diese Frau, die da kommt, wirft zwei Münzen hinein. Zwei kleine Münzen, Zweimal einen Euro sozusagen. Es ist alles, was sie noch hat. Diese zwei Münzen hätten ihr gereicht, um morgen etwas Kleines zum Essen einzukaufen.
Jesus sieht das und hebt sie hervor als Beispiel. Sie hat nicht nur etwas abgezwackt von ihrem Besitz, sondern alles gegeben, was sie hatte. Sie hat es dem Tempel gegeben. D.h. sie will, dass es in Jerusalem einen Ort gibt, wo Gott gepriesen wird und wo seine Gebote gelernt werden können. Sie will, dass es das Volk Gottes als Sein Volk gibt, und sie vertraut darauf, wenn es dieses Volk gibt als eine Gemeinschaft, dass sie selbst nicht verhungern muss, dass sie Hilfe findet, Glaubensgenossen, die sie in ihrer Not unterstützen.
Das ist der Glaube und die Zuversicht dieser Frau. Sie setzt ganz darauf, dass dies möglich ist.
Ich möchte diese Geschichten einmal von einer ganz anderen Seite her anschauen, über die biblische Botschaft hinaus. Wir schauen auf unsere Gemeinden und unsere Zeit. Auch bei uns gibt es Witwer und Witwen, also Personen, die sozusagen übriggeblieben sind nach dem Tod ihres Lebenspartners. Das Materielle ist bei uns weniger eine Frage. Es gibt Renten, Pensionen und Hinterbliebenenrenten und so weiter. Aber das Verwitwetsein ist deswegen nicht einfach. Es ist ein ganz besonderes Leben.
Menschen, die ihren Lebenspartner verloren haben, sind ja nicht einfach Singles oder Unverheiratete. Es ist ein Leben allein, aber es ist ganz anders, als wenn man 20 oder 25 ist und eine Partnerschaft vor sich hat. Witwer und Witwen haben schon die Erfahrung eines gemeinsamen Lebens gemacht, und dann scheint dieses Leben nach dem Tod des Partners plötzlich wie halbiert. Manche empfinden sich nur noch wie eine Hälfte von einem früheren Ganzen. Was man vorher zu zweit gemacht hat 25, 40, 50 Jahre lang oder noch mehr, Reisen, Besuche, Geburtstage gefeiert, sich ums Haus gekümmert und sofort, das muss man jetzt allein machen. Der Glaube und die Hoffnung auf die Auferstehung und die Gewissheit eines neuen Lebens für unsere Verstorbenen sind eine Hilfe, aber sie räumen noch nicht die Schwierigkeiten aus, die man hat, wenn man alleine ist und vorher mit einem anderen Menschen so eng zusammen war. Das ist eine ganz neue Situation.
Diese Situation von Christen, Frauen und Männern, spielt eigentlich unter uns keine große Rolle. Auch in der Kirche nicht. Man hofft, dass die Mutter oder der Vater oder die Oma schnell wieder sozusagen „normal“ wird und in das alte Gleis zurückfindet und sich irgendwie zurechtfindet. Das ist aber nicht nur ziemlich leichtfertig gesagt, es ist auch leicht überheblich und viele empfinden es als gefühllos.
In den frühen Gemeinden in der Kirche, in den ersten Jahrhunderten des Christentums, gab es den sogenannten Witwenstand: Ein eigener Stand in der Gemeinde, so wie Priester oder Eheleute oder Ordensleute einen „Stand“ bilden. Es gab eine Art Weihe von Frauen, die verwitwet waren, so dass die Gemeinde wusste: Aha, diese Person hat jetzt eine neue Stellung in der Gemeinde. Sie kommt nicht mehr zu zweit daher mit ihrem Ehemann, sondern sie ist allein. Und d.h. dass man sich mehr um sie kümmern muss, dass man ergänzen muss, was ihr fehlt, und auf der anderen Seite, dass sie selber weiß: Sie hat jetzt eine andere Aufgabe. Sie muss sich nicht mehr um ihren Mann und die Familie kümmern, sie hat mehr Zeit für anderes, vielleicht für fremde Kinder, für Familien zur Unterstützung oder Kranke oder die Aufgaben einer Gemeinde, auch für das Gebet. Sie ist frei wie eine unverheiratete Frau, aber mit einer spezifischen Lebenserfahrung. Es gab dazu eine eigene Witwenweihe.
Im 2. Jahrhundert trugen solche Witwen in den christlichen Gemeinden im Wesentlichen das, was wir heute Seelsorge nennen. Die Gemeinde hatte diesen Frauen eine wichtige Aufgabe geben können. Die Witwenweihe hat nicht nur öffentlich gemacht, dass es da einen Wechsel in einer Lebensform gegeben hat, sondern auch, dass solche Frauen eine eigene Würde und gewissermaßen neue Identität haben.
Es gab in Israel und den frühen Gemeinden nicht nur arme und bedürftige Witwen. Manche verwitweten Frauen waren auch vermögend und attraktiv, manchmal waren sie ja auch noch jünger. Judith, eine Frau im Alten Testament, deren Mann stirbt, wird von vielen Männern begehrt, weil sie klug, wohlhabend und schön ist. Und diese Frau hat große Autorität auch gegenüber Männern, und sie wird gegen die Feinde Israels zur Retterin Israels, zu einer Heldin des Gottesvolkes durch ihren Scharfsinn und ihren Mut.
Die Erzählungen der Heiligen Schrift erinnern uns daran, dass unsere schönen Gottesdienste, die Messen, Gebete und Andachten hohl und verlogen werden können, wenn die Gemeinschaft, die hier so oft genannt wird, nicht auch in unserem alltäglichen Leben vorkommt und wirkt. Nicht nur die eine Stunde am Sonntag sind wir Brüder und Schwestern, sondern auch am Montag und Dienstag und Mittwoch und sofort. Und nicht nur, wenn wir fit und lustig und gesellig sind und Feste organisieren können, sondern auch wenn wir hilflos sind, traurig, deprimiert, auch dann gehören wir uns als Brüder und Schwestern. Heute reagiert die Kirche auf den Tod, indem sie Trauerarbeit und Gespräche anbietet. Das ist schon eine Hilfe. Aber die beiden biblischen Erzählungen von heute zeigen mehr, sie zeigen, dass in einer gläubigen Gemeinschaft aus einer Situation, die menschlich ein Verlust ist, etwas Neues entstehen kann, etwas, das für die Gemeinden ein Segen und eine Hilfe ist. In einer konkreten Gemeinschaft des Gottesvolkes muss eine Witwe oder ein Witwer nicht ein „Hinterbliebener“ bleiben. Sie können etwas beitragen, was nur sie erfahren haben. Und dadurch finden sie ihren Platz – obwohl die Herausforderungen des Verlustes und vielleicht auch des Einsam-seins nicht ganz verschwinden.
Die arme Witwe im Evangelium und die Witwe von Sarepta, beide haben ganz darauf gesetzt, dass dies möglich ist. Ihre Hauptsorge war, ob es Gottes Volk gibt, das der Not der Welt und jedes einzelnen aufhelfen kann. Und das war für sie eine Hilfe, ja es hat ihnen sogar Überfluss gebracht, mehr als vorher war. Das haben diese beiden Frauen gezeigt. Ihr Ganz-Vertrauen ist das bleibende Maß für den Glauben, auch für uns, egal ob wir verwitwet, unverheiratet oder verheiratet sind. Jesus hat es so gesagt: „Kümmert euch zuerst um das Reich Gottes, um Gottes Not und Anliegen, und alles andere bekommt ihr dann dazu, sogar noch mehr als ihr denkt.“
32. Sonntag im Jahreskreis B, 10. November 2024 | Stein St. Markus | Lesungen: 1 Kön 17,10-16; Hebr 9,24-28; Evangelium: Mk 12,41-44 | Achim Buckenmaier