Lukas und der 27. Januar

3. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C) - Homilie:

Morgen, am 27. Januar, wird der sogenannte Holocaust-Gedenktag begangen. Der 27. Januar ist deswegen gewählt, weil an diesem Tag im Jahr 1945 das Konzentrationslager Auschwitz befreit wurde. Im Jahr 2006 hat Papst Benedikt XVI. Auschwitz besucht und er hat das aufgenommen, was viele Menschen an diesem Ort bewegt. Er sagte: 

„Wie viele Fragen bewegen uns an diesem Ort! Immer wieder ist da die Frage: Wo war Gott in jenen Tagen? Warum hat er geschwiegen? Wie konnte er dieses Übermaß von Zerstörung, diesen Triumph des Bösen dulden? (…)

Wir können in Gottes Geheimnis nicht hineinblicken – wir sehen nur Fragmente und vergreifen uns, wenn wir uns zum Richter über Gott und die Geschichte machen wollen. (…) Nein – im letzten müssen wir bei dem demütigen, aber eindringlichen Schrei zu Gott bleiben: Wach auf! Vergiss dein Geschöpf Mensch nicht! Und unser Schrei an Gott muss zugleich ein Schrei in unser eigenes Herz sein, dass in uns die verborgene Gegenwart Gottes aufwache, dass seine Macht, die er in unser Herzen hinterlegt hat, nicht in uns vom Schlamm der Eigensucht, der Menschenfurcht und der Gleichgültigkeit, des Opportunismus verdeckt und niedergehalten werde. Wir stoßen diesen Ruf an Gott, diesen Ruf in unser eigenes Herz hinein.“

Soweit das, was Papst Benedikt in Auschwitz gesagt hat. Er hat uns die Richtung gezeigt, in die wir in allen Nöten, Katastrophen, Verbrechen und Unglücken gehen müssen: Die Frage, wo Gott geblieben sei, die Frage nach Gott muss zur Frage nach dem Menschen werden, zur Frage an uns.

Die Texte dieses Sonntages, liebe Schwestern und Brüder, geben uns keine Antwort auf diese Fragen. Ja, sie stellen diese Fragen gar nicht. Aber, sie haben einen Zusammenhang mit ihnen, der über das Zusammentreffen der Daten im Kalender hinausgehen. Worin besteht dieser Zusammenhang?

Im Advent haben wir in der Kirche ein neues sogenanntes Lesejahr begonnen, das heißt in diesem Jahr 2025 wird an den meisten Sonntagen das Evangelium aus dem Werk des heiligen Lukas genommen. Aber erst heute an diesem Sonntag haben wir den Beginn des Lukas-Evangeliums gehört, kombiniert mit der Erzählung von einem Schabbat-Ereignis, das sich in Nazareth zugetragen hat. Der Evangelist Lukas hat nicht einfach begonnen, von Jesus zu erzählen, sondern er hat an den Beginn seines Evangeliums eine Art Rechtfertigung als Autor und Darstellung seiner Arbeitsweise als Evangelist gesetzt. Nachdem er darauf verweist, dass schon andere die Geschichte Jesu erzählt und aufgeschrieben haben, sagte er von sich selber:

„Nun habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen bin, es für dich hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben.“

Lukas versteht sich als Schriftsteller und als Historiker. Er besteht darauf, dass er nicht einfach alte Geschichten und Gerüchte, die er nur vom Hörensagen kannte, aufschreibt. Er schreibt auch keinen Jesus-Roman. Er schreibt kein Märchen im Sinne von „es war einmal…“. Er schreibt auch keinen Mythos über etwas, was sich überall auf der Welt und zu jeder Zeit, irgendwie in verschiedenen Gestalten zutragen könnte.

Manche Menschen halten ja die Bibel für ein solches Geschichtenbuch oder für eine Sammlung von schönen Weisheiten, die man ins Poesiealbum, soweit es das noch gibt, oder auf Todesanzeigen schreibt. Oder sie glauben, dass wir Christen leichtgläubig einfach einem frommen Märchen aufsitzen.

Lukas rechtfertigt sich als Autor, denn das Ziel seines Buches ist es, dass sich der Leser von der Zuverlässigkeit dessen, was er beschreibt, überzeugen kann

Deswegen, sagt er, er ist allem nachgegangen, hat Augenzeugen befragt, hat alles der Reihe nach aufgeschrieben. Im Griechischen sagt er, er sei allem akribos, also „ganz genau“ nachgegangen, das heißt akribisch. Es geht ihm nicht um allgemeine Weisheiten, sondern um Ereignisse, die sich erfüllt haben. „Ereignisse“ heißen im Griechischen pragmata. Das Wort kennen wir von unserem Wort „pragmatisch“. Es geht im Evangelium also um Pragmatisches, um Vernünftiges, um Sachen, Dinge, Personen, um Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden haben und so wirken.

Es geht also um eine konkrete Geschichte und die Ereignisse in ihr.

Direkt im Anschluss an dieses Vorwort fährt Lukas mit dem Satz fort: „Es geschah in den Tagen des Herodes, des Königs von Judäa...“ Und bei der Geburt Jesu heißt es: „Es geschah aber in jenen Tagen, ein Erlass ging aus vom Kaiser Augustus, zur Zeit, als Quirinus Präfekt von Syrien war...“ Und auch, dass das heutige Evangelium nicht irgendetwas von Jesus erzählt, sondern eine Begebenheit, die sich an einem bestimmten Ort ereignet hat, nämlich in seiner Heimatstadt Nazareth. Und im ganzen Evangelium kommen immer wieder solche Orte vor: Bethlehem, Jerusalem, Kana, Kafarnaum, Tyrus, Sidon, Caesarea Philippi, Damaskus und sofort. Orte, die es heute noch gibt.

Diese Mühe, die sich Lukas gemacht hat, ist auch ein Dienst an uns, damit auch wir uns von der Zuverlässigkeit der Jesus-Geschichte überzeugen können, damit es uns nicht gleich umhaut, wenn jemand sagt: Das sind ja nur Märchen oder Geschichten. Die Evangelien weichen in dem einen oder anderen von einander ab. Sie haben unterschiedliche Autoren und vor allem hatten die Evangelisten unterschiedliche Menschen im Blick, für sie ihre Bücher schrieben und sie haben dann Verschiedenes akzentuiert. Aber sie stimmen ganz und gar überein, dass der, den wir den Sohn Gottes nennen, den Heiland und Retter der Welt, dass dieser die geschichtliche Person des jüdischen Handwerkers Jesus aus Nazareth war. Sie stimmen in seiner Grundbotschaft ganz und gar überein, und auch in den Erzählungen seiner Passion und seines Todes. Nur dreißig, vierzig, fünfzig Jahre nach seinem Tod, als die Evangelien geschrieben wurde, hätte niemand so etwas aus der Luft saugen und erfinden können. Die Leute, die damals lebten, hätten es ganz leicht als Fiktion oder Täuschungsmanöver erkennen können.

Es ist Erzählung einer Geschichte – in der Form von Geschichten.

Wir Christen selbst haben genau dies oft vergessen und haben Jesus zu einer Art zeitlosen Erlösergestalt gemacht, zu einem Adonis, den sich jedes Volk nach seinen Idealen vorgestellt hat, einen Jesus schwarz oder weiß, aber nicht mehr dieser jüdische Handwerker, der im ersten Jahrhundert in Israel gelebt hat. Und diese Vergessenheit der Geschichte hat mit zu dem beigetragen, was ich am Anfang erwähnt habe, der Schoa, dem Holocaust, von Ausschwitz. Weil wir Christen nicht mehr Jesus als Juden kannten, und nicht mehr die Gottesmutter Maria als jüdische Mutter, deswegen haben wir auch nicht mehr die eine Geschichte gekannt, die uns mit Israel verbindet und ohne die es uns selbst gar nicht gäbe. Das ist die Verantwortung, die auf uns liegt, das muss zu dem Schrei nach innen werden, auch in die Kirche hinein, von dem Papst Benedikt gesprochen hat.

„Heute“, sagt Jesus im Evangelium, „heute hat sich der Schriftwort, dass ihr eben gehört habt, erfüllt.“

Die Zuverlässigkeit des Evangeliums besteht nicht primär darin, dass wir es in der Vergangenheit überprüfen könnten. Die Zuverlässigkeit der Botschaft von Jesus besteht darin, dass sie sich heute an uns erfüllt und als wahr erweist, weil wir so leben, wie er gelebt hat. Weil wir in dieser Geschichte Israels leben und mit ihr, so wie sie in der ersten Lesung erzählt wurde.

Das ist auch der Kern aller Botschaften und alle Erscheinungen, die es in der Geschichte der Kirche gab und gibt bis auf den heutigen Tag. Dass das Evangelium uns nicht als ein bloßes Wort der Vergangenheit erscheint, so zuverlässig seine Quellen auch sind. Sie sind nicht eine Biografie Jesu, sondern Impuls, seiner Geschichte zu vertrauen. Darauf zu vertrauen, dass Gott nicht aufgehört hat, in der Welt zu handeln und zu sprechen.

Die Geschichte Jesu, seines Volkes, des jüdischen Volkes zu vergessen, bedeutet, den Anspruch der Zuverlässigkeit des Evangeliums aufzugeben. Das hat nicht nur dieses große Verbrechen in der Welt mit ermöglicht. Das hat auch die Kraft der Kirche schwach gemacht, die Kraft, von Jesus Zeugnis zu geben, von der heiligen und heilsamen Geschichte Gottes mit uns.

Bitten wir darum, dass unsere Ohren und unsere Herzen so geformt werden heute, dass wir in unserer Geschichte, im Wort Gottes und in allen Botschaften, die authentisch sein Wort auslegen, die Stimme des lebendigen Gottes hören, auch damit sich unsere Zeitgenossen von der Zuverlässigkeit dieser Sache überzeugen können, die sie irgend irgendwann mal schon gehört haben.

Papst Benedikt sagte 2006: „Der Ort, an dem wir stehen, ist ein Ort des Gedächtnisses, ist der Ort der Schoah. Das Vergangene ist nie bloß vergangen. Es geht uns an und zeigt uns, welche Wege wir nicht gehen dürfen und welche wir suchen müssen.“ Ja, auch diese Eucharistie, die wir jetzt feiern, ist ein Ort des Gedächtnisses, des Gedächtnisses der Geschichte Gottes, des Leiden und Sterbens Jesu und seiner Auferstehung. Auch diese Eucharistie „geht uns an und zeigt uns, welche Wege wir nicht gehen dürfen und welche wir suchen müssen.“

3. Sonntag im Jahreskreis C, 25./26. Januar 2025 | Burladingen St. Fidelis; Boll St. Nikolaus; Jungingen St. Silvester  |  Lesungen: Neh 8,2-4a.5-6.8-10; 1 Kor 12,12-14.27; Evangelium: Lk 1,1-4; 4,14-21  |  Achim Buckenmaier