Angesehene Leute

Dieses Evangelium, das wir gerade gehört haben, erzählt eine Begebenheit auf dem Weg Jesu von seiner Heimat in Galiläa im Norden Israels nach Jerusalem. Die Wanderung über Land gibt den Jüngern Gelegenheit, mit Jesus über viele Dinge zu sprechen, ihn nach seinem Auftrag und nach seiner Botschaft zu befragen. Und sie gibt Gelegenheit für Begegnungen mit Menschen, die von Jesus gehört haben und interessiert sind, mehr zu erfahren.

In dem heutigen Abschnitt ist es ein junger Mann. Er hat eine Frage: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ Das ist nicht eine Frage, die man so am Frühstückstisch oder beim Kaffeekränzchen nebenher fragt. Ist eine tiefe Frage. Was ist eigentlich mit meinem Leben? Was ist, wenn ich sterbe? Was ist das Wichtigste, was ich im Leben tun und erreichen muss?

Es ist sehr typisch für Jesus, dass er nicht mit herkömmlichen Antworten daherkommt. Der spekuliert nicht über das Jenseits, erstellt keine Hypothesen auf über das Weiterleben der Verstorbenen, über die Unsterblichkeit der Seele oder sonst etwas. Er antwortet mit einer Frage. Und in diese Frage schließt er die Zehn Gebote ein. Ewiges Leben gewinnen hat etwas mit unserem Tun und Handeln hier und jetzt zu tun. 

Aber das ist nur der Beginn der Antwort. Der Schlüsselsatz des ganzen Evangeliums liegt in etwas anderem. Der Evangelist Markus erwähnt es in der Mitte der Erzählung: „Da sah ihn Jesus an, umarmte ihn…“

Das Entscheidende ist nicht mehr die Erfüllung von religiösen Pflichten. Das befürwortet Jesus ja durchaus, indem er die Zehn Gebote zitiert. Das Entscheidende, was dem jungen Mann fehlt, ist, dass er den Augenblick versteht, in dem ihn Jesus ansieht. 

Papst Benedikt XVI. hat in seiner Enzyklika „Deus Caritas est“ („Gott ist die Liebe“) es so gesagt: „Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.“ Diese Person ist für uns Christen Jesus von Nazareth. Das Neue Testament erzählten an mehreren Stellen von solchen Begegnungen unterschiedlicher Menschen mit Jesus. 

Eine Frau, die als öffentlich Sünderin galt und es wohl auch war, gießt ihr bestes Parfüm über die Füße Jesu und trocknet sie mit ihren Haaren ab. Etwas Schillerndes, Außergewöhnliches, fast Provokantes. 

Andere, wie der Apostel Andreas, begegnen Jesus und sind so davon beeindruckt, dass sie sofort zu ihren Arbeitskollegen und ihren Geschwistern gehen und es begeistert weitererzählen: „Wir haben den Messias gefunden!“

Die Jünger auf dem Weg nach Emmaus, nach der Auferstehung Jesu – sie sagen von sich selbst: „Brannte nicht unser Herz, als er mit uns redete…?“

Das ist das, was dem jungen Mann gefehlt hat, dass er nicht gemerkt hat, dass Jesus ihn anschaut, und dass sein Herz nicht gebrannt hat. Vielleicht, weil er mit sich selber und seinen Leistungen schon so beschäftigt war und mit der Frage nach dem Leben nach dem Tod. 

Deswegen spricht Jesus auch nicht so sehr vom ewigen Leben. Dreimal hingegen kommt das Wort „Reich Gottes“ vor, also die Welt, wie Gott sie will. Jesus spricht von der „kommenden Welt“, eine typisch jüdische Wendung. Die „kommende Welt“. Deswegen sagt er im Gebet, dass er den Jünger mitgibt, im Vaterunser, dass die Jünger so beten sollen – wie wir es nachher auch tun: „Dein Reich komme!“, nicht: „Lass mich in den Himmel kommen.“

Ewiges Leben ist dem Verständnis Jesu und dem Verständnis der Bibel nach nicht ein unvermitteltes postmortales Dasein, nicht etwas, das erst nach unserem Leben hier auf der Erde beginnt. Christsein ist nicht eine Ansammlung von Katechismuswissen, nicht eine Vielzahl von Verpflichtungen, Geboten und Traditionen, nicht ein paar Stoßgebete, wenn’s schlecht geht oder die Führerscheinprüfung ansteht. Ewiges Leben ist, Gott zu kennen. Das eine Entscheidende ist: Wahrzunehmen, dass mich durch die Taufe Jesus schon angeschaut hat. „Da sah ihn Jesus an und umarmte ihn…“

Vieles wird heute am Christentum kritisiert, und noch mehr an der Kirche. Es gibt viele Wünsche, wie sie sein sollte, sein müsste, damit man mit ihr wieder verbunden ist, wie der Gottesdienst aussehen sollte, welche Gestalt und welche Lieder er haben müsste, und vieles andere mehr .

Was hilft, dass der Glaube unserer Vorfahren, unserer Großeltern auch in die nächste Generation kommt, sind aber nicht solche Erneuerungen und Projekte und Reformen. Das Einzige, was hilft, ist, dass diejenigen, die hier sind, wir, wieder verstehen, dass wir angeschaut sind. „Da sah ihn Jesus an…“ Und dass dadurch eine Freude in uns geweckt wird, ein größerer Horizont eröffnet, eine Orientierung gegeben ist und eine Sicherheit für unser Leben.

Das ist der Sinn des Gottesdienstes, zu dem wir heute Abend zusammen sind. Das ist der Sinn eines jeden Gottesdienstes, jeden Sonntag und auch unter der Woche, wenn er hier stattfindet. Nicht dass wir einer Verpflichtung nachgehen oder eine Tradition nicht aussterben lassen wollen. Der einzige Sinn ist, dass Jesus uns anschaut, dass er uns anspricht, nicht durch „Alexa“ oder „Siri“, sondern mit den Worten aus der Heiligen Schrift, der Bibel, aus der vorgelesen wird, dass wir seine Gegenwart wahrnehmen, im Sakrament der Eucharistie, in Brot und Wein, dass wir Gottes Volk erfahren, nicht in Statistiken und virtuell, sondern real, in denen, die neben mir sind und mit mir sind heute Abend.

Das Geheimnis der Erneuerung der Kirche und das Geheimnis des Glaubens ist heute in diesem einen Satz zusammengefasst: „Da sah ihn Jesus an und umarmte ihn…“

28. Sonntag im Jahreskreis B, 12. Oktober 2024  | Boll St. Nikolaus  |  Lesungen: Weish 7,7-11; Hebr 4,12-13; Evangelium: Mk 10,17-30  |  Achim Buckenmaier