Hilf mir, bitte!
30. Sonntag im Jahreskreis B - Homilie:
An diesem Sonntag sieht man auf eine sehr gute Weise, wie sehr Altes und Neues Testament zusammengehören, beziehungsweise wie man das Neue Testament, das Evangelium, nur verstehen kann, wenn man auch das Alte Testament mitliest.
Das Evangelium von heute hat uns diese Geschichte von der Heilung des Blinden Bartimäus erzählt. Auch die erste Lesung aus dem Buch des Propheten in Jeremia erwähnt Blinde, die im Zug Gottes nach Jerusalem zurückkehren.
Der Prophet Jeremia spricht von Israel, und er meint damit die jüdischen Stämme im Nordteil des Landes. Zehn der zwölf Stämme Israels haben im Norden des judäischen Berglands, nördlich von Jerusalem, und in Galiläa gelebt. Im Jahr 586 v. Chr. wurden sie von den Assyrern erobert und verschleppt. Sie sind nie mehr zurückgekehrt. Deswegen ist das, was Jeremia von ihrer Rückkehr erzählt, eine Vision, ein Blick in die Zukunft, aus der Hoffnung, dass Gott handeln wird und diese Stämme wieder zurückführen wird, dass sie wieder einen Ort haben werden, wo sie als Juden leben können und wo der wahre Gott als Gott anerkannt und verehrt wird.
Die Vision malt also die Rückkehr dieser Verschleppten und Vertriebenen aus, und sie sagt, dass auch Blinde und Lahme, schwangere Frauen und Wöchnerinnen in diesem großen Treck nach Hause sein werden, also Personen, die denkbar ungeeignet sind für eine lange Reise. Was eigentlich unmöglich ist, das, so beschreibt es Jeremia, setzt Gott ins Werk.
Diese Vision, von der es menschlich gesehen so unwahrscheinlich ist, dass sie eintritt, ist etwas typisch Jüdisches: Sie besteht nämlich darauf, dass es eine Hoffnung gibt, auch in der größten Not, dass diese Hoffnung daherkommt, dass es Gott gibt und dass er handeln und heilen kann, wenn man ihm vertraut, wenn eine Gruppe von Menschen ganz auf ihn setzt.
Im Evangelium nach Markus kommt genau diese Hoffnung wieder zum Ausdruck, nämlich in der Person des blinden Mannes Bartimäus. Er ist blind, d.h. er kann keiner normalen Arbeit nachgehen und seinen Lebensunterhalt nicht durch Arbeit verdienen. Deswegen ist er Bettler und sitzt in Jericho an der Ausfallstraße, an der Stelle, wo die Pilger nach Jerusalem aus der Stadt hinausgehen. Das ist ein strategisch günstiger Platz, um zu betteln. Es geht also um einen Weg nach Jerusalem, genau wie bei Jeremia. Und es geht wieder um diese Vertrauen, darauf dass es Gott gibt und dass er handeln und heilen kann, wenn man ihm vertraut.
Es gibt in dieser Erzählung zwei Punkte, die bezeichnend sind, die wichtig sind für uns.
Das erste, was man sieht: Bartimäus nennt Jesus „Sohn Davids“. Jesus kommt aus der Geschichte des jüdischen Volkes, er ist nicht vom Himmel gefallen, er ist ein Nachfahre Davids, er steht in einer langen Kette von gläubigen Juden. Heilung gibt es nur, wenn man sich an diese Geschichte anschließt. Heilung ist aber nicht nur oberflächlich Heilung von einer Krankheit, die einen bedroht und einschränkt. Heilung ist vor allem Befreiung von der Angst, etwas zu verlieren und zu verpassen. Von der Panik um das eigene Leben. Und Heilung von unseren tiefen Wunden, von Streit und Neid und dem Kampf und dem ewigen Sich-Vergleichen mit anderen.
Heilung kommt nicht von Schamanen und Scharlatanen. Es gibt heute unendlich viele Angebote zur Heilung vor allem seelischer Erkrankungen. Auch in der Kirche reicht das Spektrum von wundertätigem Wasser zur Heilung bis Klangschalenmeditationen zur inneren Balance. Manche sind hilfreich, manche sind abstrus.
Wenn der blinde Bartimäus Jesus so nachdrücklich „Sohn Davids“ nennt, dann bringt er diese Hoffnung zum Ausdruck, dass ihm aus der Geschichte Israels Heilung zukommt. Man muss Jesus und seine Herkunft kennen, die Weisheit des Alten Testamentes kennen und lieben. Als Christen dürfen wir darauf vertrauen, dass die Zehn Gebote und die Gesetze Gottes nicht nur moralisch verpflichtend sind, sondern dass sie vernünftig sind, dass es klug, richtig und vernunftgemäß ist, sie zu leben und zu beachten. Nehmen wir nur das Gebot: „Du sollst kein falsches Zeugnis abgeben.“ Also: Nicht falsch vor Gericht aussagen. Das ist nicht nur moralisch geboten, nicht zu lügen, sondern entscheidend für die Rechtssicherheit in einer Gesellschaft. Es ist vernünftig, sich auf die Wahrheit zu stützen. Es heilt die Krankheiten der Korruption und Bestechlichkeit und bietet Sicherheit und Schutz für diejenigen, die wenig Mittel haben, sie einfach schwächer sind. Es ist ein Gebot, das Frieden garantiert.
Im Alten Testament finden wir auch die Psalmen und viele Erzählungen über das unbedingte Vertrauen in Gott und seine Gegenwart. Diese Texte sind ein riesiger Speicherplatz von Erfahrungen mit einem Leben nach den Weisungen Gottes, mit einem Leben als Gemeinschaft. Und das Resümee ist immer: Es ist nicht einfach, es ist kein Spaziergang, es ist anspruchsvoll so zu leben, aber es ist wirkliches Glück, es ist vernünftig und hilft. Es ist heilsam für jeden und für die Welt.
Das Zweite, was uns in dieser Geschichte auffallen muss: Der Blinde redet Jesus nicht nur an, sondern er schreit und ruft. „Hab Erbarmen mit mir!“ Hilf mir! Das ist das Entscheidende, was zu dieser Heilung beiträgt, dass Bartimäus seine Hilfsbedürftigkeit offensiv hörbar macht. Dass er Hilfe will, mit aller Kraft. Bevor er noch sieht, springt er auf und läuft auf Jesus zu. Der Mann wirft seinen Mantel weg, das war vielleicht das Einzige, was er hatte, sozusagen die Zeltplane, mit der er sich nachts zudecken konnte. Heilung gibt es nur, wenn man sie will und dafür etwas riskiert und einsetzt, traditionell gesagt: Wenn man vertraut.
Der Glaube ist Vertrauen. Er ist Vertrauen auf Gott und seine Führung. Und zugleich ist Glaube auch, dass ich anderen in der Kirche, anderen Glaubenden vertraue, dass sie mir helfen können. Der Mann hat ja auch nur Jesus gesehen, einen jungen Mann, einen Handwerker. Jesus hatte keinen Heiligenschein um sich und keinen Anstecker am Gewand, auf dem stand: Sohn Gottes. Er war als Mensch sichtbar, aber eben als einer, der ganz mit Gott rechnete, ihm ganz vertraute. Das konnte man sehen.
Glaube ist also, dass ich die anderen, die mir Gott als Brüder und Schwestern gegeben hat, um Hilfe bitte, dass ich den Mut finde, aufzustehen und dem anderen zu sagen: Hab Erbarmen mit mir, das heißt: Hilf mir! Ich brauche Hilfe! Ich komme nicht zurecht mit der und der Sache, der und der Person.
Es gibt eine jüdische Geschichte, die erzählt, dass eines Tages der Gemeindediener zum Rabbi kommt und ihm erzählt, dass in einem Haus ein armer Mann an Hunger gestorben ist, weil er nichts hatte. Der Rabbi fragt den Diener: Hat er um Hilfe gebeten? Nein, sagt der Gemeindediener. Dann, so erwidert der Rabbi, ist er nicht an Hunger gestorben, sondern an Stolz.
Viele Nöte, viel Bedrängnis und viele Probleme gibt es auch unter uns, unter den Christen, weil wir uns nicht öffnen voreinander und um Hilfe bitte. ch sehe oft in unseren Kirchen die Kerzenständer voll mit kleinen Kerzen, die Menschen anzünden in irgendeinem Anliegen. Ich sehe manchmal auch die Personen, die kommen und beten und eine Kerze aufstecken. Oder ich lese in den Fürbittenbüchern, die ausgelegt sind. Da stecken viele Probleme und Sorgen dahinter, aber auch viel Vertrauen. Für mich ist das eine Haltung, dass wir uns einüben, unsere Probleme zu benennen, auszusprechen und um Hilfe zu bitten. Wenn ich es schon einmal Gott und den Heiligen gesagt habe, dann kann ich auch meine Nächsten bitten, mir zu helfen.
Stolz ist mangelndes Vertrauen. Das ist die eigentliche Blindheit: Dass wir nicht sehen, dass uns Gott Gefährten an die Seite gestellt hat, die Hilfe schon da ist. Die Bartimäus-Geschichte lehrt auch das: Wir dürfen sagen: Hilf mir. Ich möchte wieder sehen können. Und sie lehrt, dass der Herr dann auch sagen kann: Dein Glaube hat dir geholfen.
30. Sonntag im Jkr. B, 26./27. Oktober 2024 | Burladingen Comunità Cattolica Italiana; Hausen St. Nikolaus; Ringingen St. Martin | Lesungen: Jer 31,7-9; Hebr 5,1-6; Evangelium: Mk 10,46-52 | Achim Buckenmaier