Noch ein Jesus und seine Vernunft

8. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C) - Homilie:

Manchmal sind die Texte der Heiligen Schrift erschreckend und groß, weil sie so anders sind als unser eigenes Denken. So war es am vergangenen Sonntag mit dem Gebot der Feindesliebe, der Aufforderung auch die andere Wange zu halten, wenn einer mich auf die eine Wange schlägt und sofort. Es gibt aber auch andere Texte, die im Gottesdienst vorgelesen werden. Texte, die so eindrücklich sind, weil sie so normal klingen, weil sie Einsichten und Erfahrungen wiedergeben, die wir kennen, die uns einleuchtend sind. Heute ist es vielleicht so, vor allem mit dem Evangelium und diesem Wort vom Splitter und vom Balken im Auge, und auch mit der ersten Lesung aus dem Buch Jesus Sirach.

Schon in der ersten Lesung aus dem Alten Testament kommen uns solche einleuchtenden Worte entgegen:

„Im Sieb bleibt, wenn man es schüttelt, der Abfall zurück; so entdeckt man den Unrat eines Menschen in seinem Denken.“

Vermutet man einer solchen Satz in der Bibel?

Dieser Text stammt aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. von einem Autor, der Jesus Ben Sira hieß. Nach ihm wird das Buch Jesus Sirach genannt. Dieser Jesus Ben Sira, lebte in einer Zeit, in der die griechische Kultur die Welt eroberte, so ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg die englische Sprache und der American Way of Life eine Art universale Kultur und Sprache geworden ist. Diese Welt der antiken griechischen Kultur, des Hellenismus, umgab das kleine, jüdische Volk an allen Ecken und Enden. Es gewann auch Einfluss unter den Juden selbst.

Mit dem Hellenismus kam aber nicht nur eine neue Sprache in die Welt der Juden, sondern auch das ganze Denken die Philosophie und die Vorstellung von Göttern und ein fremdes Bild vom Menschen drängten sich plötzlich in den Glauben Israel hinein. Jesus Ben Sira versuchte nun, in diesem neuen Denken und in dieser anderen Sprache den Glauben an Gott, an den einen Gott, Israels, der Schöpfer und Herr der ganzen Welt ist, neu zu sagen. Er hat vor allen Dingen auf die Vernünftigkeit des Glaubens abgehoben. Wer an Gott glaubt, hängt nicht abstrusen Ideen und Praktiken an, sondern er verwirklicht auf dem Weg der Gebote ein vernünftiges Leben. So konnte er auch eine geistige Brücke bilden zu den Menschen, die den Glauben Israels nicht kannten. Jesus Ben Sira sammelte deswegen Erfahrungen und Einsichten, die er finden konnte, die im Laufe der Jahrhunderte in Israel entstanden sind.

Und dann sind solche Sätze entstanden, wie wir sie eben in der Lesung gehört haben: „Im Sieb bleibt, wenn man es schüttelt, Abfall zurück und so entdeckt man den Unrat eines Menschen in seinem Denken.“

Das ist eine Einsicht, die sich leicht erschließt. Jeder kennt ein Sieb und weiß, wie es funktioniert. Und so, sagt Ben Sira, ist es auch bei uns Menschen.

Wir leben auf die eine Weise oder die andere. Wir handeln so oder so. Wir essen dies oder das. Unser Lebensstil ist ausschweifend oder geizig. Wir sind moralisch strikt oder lässig… Was wir tun, wirkt sich auch auf unser Denken aus. Einen solchen Gedanken versteht jeder.

In diesem Denken ist auch Jesus groß geworden. Das merkt man auch am heutigen Evangelium. Darin sind solche Einsichten wiedergegeben, die Jesus vielleicht schon vorgefunden hatte oder die er selber gemacht hat. Es sind ja mehrere solche Weisheiten in diesem kleinen Abschnitt des Evangeliums:

„Ein guter Baum bringt gute Früchte hervor. Ein schlechter Baum bringt schlechte Früchte hervor.“ 

„Von Disteln pflückt man keine Feigen und von Dornstrauch erntet man keine Trauben.“

„Wovon das Herz überfließt, davon spricht der Mund.“

„Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken im eigenen Auge bemerkst du nicht?“

Gerade dieser letzte Satz leuchtet ein. Seine Wahrheit zeigt sich in meinem Verhalten: Ich ärgere mich über dieses oder jenes beim anderen, über eine Kleinigkeit, eine Unart. Um so näher wir miteinander leben, um so leichter kommt das vor. Zuhause ärgere ich mich, dass immer Haare im Waschbecken sind. In der Arbeit, dass der Kollege immer zu spät kommt. Auf der Autobahn über die, die rechts überholen.

Das sehen wir sofort. Und wir kritisieren es umgehend und meistens penetrant. Aber über unsere eigenen Fehltritte, über unsere wirklichen Unarten, dass wir uns bedienen lassen, dass wir uns für das Zentrum der Welt halten, dass wir, wenn’s pressiert noch viel freier über die Regeln hinwegen, darüber gehen wir großzügig hinweg. Mit mir selber bin ich immer sehr großzügig. Für die eigenen Laster, Fehler, Schwächen und Sünden habe ich mehr Entschuldigungen als für andere. Die großen moralischen Prinzipien werfe ich einfach über Bord und kenne schon die Ausreden, die ich mir selber gebe.

Jesus hat nicht nur das Buch des Jesus ben Sira gekannt. Er hat auch seine Leute gekannt. Er ist ja 30 Jahre lang in Nazareth aufgewachsen, Handwerker geworden, hat gearbeitet. Da hat er die Leute kennen gelernt. Das ist in seine Verkündigung eingegangen.

Das jüdische Volk hat sich immer dadurch ausgezeichnet, dass es vor allen Dingen selbstkritisch war, nüchtern, was die eigene Person angeht, realistisch, was die eigenen Schwächen oder Stärken betrifft. Die Erfahrungen wurden durch die Jahrhunderte hindurch gesammelt, aufgeschrieben und bewahrt und so wuchsen diese Einsichten, ohne Pessimismus, aber auch ohne Illusionen, was der Mensch wirklich ist, wie er reagiert und wie deswegen die Welt läuft.

Darum ist der Glaube an Gott auch nichts Abgehobenes und auch nicht rein Spirituelles. Der Glaube an Gott formt sich zu einer Lebensweisheit und einer Lebensweise. Wer an den Gott Israels glaubt, glaubt an den Gott der Barmherzigkeit und der Großzügigkeit und der Gerechtigkeit. Und im Spiegel der göttlichen Großzügigkeit sehen wir vielleicht unsere eigene Kleinlichkeit, mit der wir den anderen beurteilen, über ihn urteilen und ihm begegnen. Zur Vorbereitung auf das Beichtsakrament wird oft ein sogenannter „Beichtspiegel“ empfohlen. „Beichtspiegel“ meint genau diesen realistischen Blick auf sich selbst. Ja, sogar in der Fasnacht hat sich das erhalten. Die besten Narren halten den Großen und Mächtigen, aber auch uns und sich selbst einen Spiegel vor.  Die besten Witze sind die, in denen man sich selber wiedererkennt.

Der eigentliche „Spiegel“ ist für uns freilich die Heilige Schrift und die darin zu findende Weisheit und Klugheit. Zur Vernünftigkeit des Glaubens gehört, dass wir keine magischen Erlebnisse brauchen und keine außergewöhnlichen Versenkungen. Es genügt, wenn wir mit der Bibel, der Heiligen Schrift vertraut werden, wenn wir uns ihr aussetzen und sie hören, auch hier im Gottesdienst, wenn wir auch um den Rat anderer Gläubiger Menschen bitten und den annehmen.

Jeder Gottesdienst ist eine kleine Schulung in dieser Haltung. Der „Spiegel“, den uns hier die Heilige Schrift entgegenhält, reflektiert unser Leben, aber er ist zugleich durchsichtig. Wir sehen nicht nur uns selbst. Wie sehen vor allem das Gute, das Gott uns gibt. Wir sehen  S e i n e   Großzügigkeit, seine Wohltaten, seine Treue, seine Fügungen. D a s  ist der Grund, warum auch wir uns selbst anschauen können, ohne Täuschungen, aber auch ohne Traurigkeit. Dann kann unser Glauben zu einem vernünftigen guten Leben werden, nicht nur für uns, sondern auch für alle, die mit uns leben und eigentlich so für die Welt.

8. Sonntag im Jahreskreis (C)  |  Ringingen St. Martin  |  Lesungen: Sir 27,4-7; 1 Kor 15,54-58; Evangelium: Lk 6,39-45  |  Achim Buckenmaier