Das Phänomen Medjugorje
Am 19. September hat das römische Dikasterium für die Glaubenslehre eine "Note" zum Pilger- und Wallfahrtsort Medjugorje veröffentlicht. In dieser Homilie in einem Gottesdienst in Burladingen, den regelmäßig Medjugorje-Pilger feiern, habe ich versucht zu erläutern, was das umfangreiche Dokument sagt. AB
"In jener Zeit rief Jesus die Zwölf zu sich und gab ihnen die Kraft und die Vollmacht, alle Dämonen auszutreiben und die Kranken gesund zu machen. Und er sandte sie aus mit dem Auftrag, das Reich Gottes zu verkünden und zu heilen.
Er sagte zu ihnen: Nehmt nichts mit auf den Weg, keinen Wanderstab und keine Vorratstasche, kein Brot, kein Geld und kein zweites Hemd. Bleibt in dem Haus, in dem ihr einkehrt, bis ihr den Ort wieder verlasst. Wenn euch aber die Leute in einer Stadt nicht aufnehmen wollen, dann geht weg, und schüttelt den Staub von euren Füßen, zum Zeugnis gegen sie. Die Zwölf machten sich auf den Weg und wanderten von Dorf zu Dorf. Sie verkündeten das Evangelium und heilten überall die Kranken." (Lk 9,1-6; Evangelium vom Mittwoch in der 25. Woche im Jahreskreis II)
*
Liebe Schwestern und Brüder, das Evangelium dieses Tages erzählt von der Aussendung der zwölf Apostel durch Jesus und von dem Auftrag, den er ihnen gibt, das Reich Gottes zu verkünden und zu heilen. Lukas betont in diesem Abschnitt, dass die Zwölf genau diesen Auftrag übernommen haben: „Sie machten sich auf den Weg und wanderten von Dorf zu Dorf. Sie verkündeten das Evangelium und heilten überall die Kranken.“ Sie tun also genau das, was Jesus getan hat.
Damit sind die wichtigsten Dimensionen der Kirche genannt: Verkünden, dass Gott da ist, dass er nah ist, theologisch gesprochen: dass sein Reich gekommen ist, die Gottesherrschaft, und dass dies die Heilung der zerbrochenen Welt bedeutet.
Von diesem zentralen Faktum her ist es nicht schwer, auf ein Ereignis zu blicken, dass Sie, liebe Schwestern und Brüder, in diesen Tagen sicher bewegt hat. Am 19. September 2024 hat das Dikasterium für die Glaubenslehre seine "Nota" veröffentlicht mit dem Titel: „Die Königin des Friedens. Note über die geistliche Erfahrung im Zusammenhang mit Medjugorje.“
Ich möchte heute Nachmittag, in dieser Feier des Gottesdienstes, die für Sie eine Feier der Dankbarkeit ist, auf einige Aussagen dieses Dokumentes unsere Aufmerksamkeit lenken. Denn der Text selbst ist relativ lang und nur die wenigsten werden ihn in seiner Gänze gelesen haben.
Ich möchte fünf verschiedene Aussagen des Dokumentes hervorheben.
1. Das Dikasterium betont gleich zu Beginn, dass es an der Zeit ist, die „lange und komplexe Geschichte rund um die geistlichen Phänomene von Medjugorje abzuschließen“ (Nr. 1). Das werden sicher viele so empfinden, denn es sind über 40 Jahre, in denen dieses Phänomen für immer mehr Menschen zu einer wichtigen Lebenserfahrung, für andere aber auch zu einer Frage geworden sind.
Es ist typisch für die Kirche, dass sie in so großen Zeitspannen denkt. Die Kirche ist nicht von Wahlperioden abhängig und muss nicht auf die nächsten Umfrageergebnisse schauen, um ihre Entscheidungen zu treffen.
Bemerkenswert daran ist, dass diese Entscheidung zwar eine Entscheidung der Hierarchie ist, also der Hirten der Kirche und in diesem Fall sogar des obersten Hirten, des Papstes selber. Aber der Grund, warum es zu dieser Erklärung kommt, ist nicht eine willkürliche Entscheidung des Papstes oder einer seiner Behörden. Zu diesem Dokument hat ein langer Weg von Erfahrungen geführt, die Menschen gemacht haben. Keine kirchliche Stelle, keine pastoralen Strategien haben sich das ausgedacht. Vielmehr hat es einfach ereignet und aus diesem Geschehen hat sich etwas Neues entwickelt. So wächst der Glaube des Gottesvolkes.
Das entspricht dem, wie das Gottesvolk lernt. Das entscheidende Dokument für den Glauben ist die Heilige Schrift aus Altem und Neuem Testament. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt dazu, dass die Bibel das entscheidende Maß für den Glauben ist. Und zugleich, so sagt das Konzil, wächst in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes das Verständnis der Offenbarung (vgl. Dei Verbum Nr. 8). Es gibt also einen Fortschritt im Verstehen. Und dieses Wachstum, so sagt das Konzil, geschieht „durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen (…), durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt und durch die Verkündigung“ der Bischöfe (Dei Verbum Nr. 8)
Bei vielen, was die Kirche heute als ihre Lehre ansieht, ist es so gewesen, dass zuerst das Volk Gottes, einfache Gläubige, etwas verstanden und gesehen haben. Das Dogma von der Aufnahme Marias in den Himmel oder das Fronleichnamsfest sind solche Dinge, die lange herangereift sind und die es in der Kirche gar nicht gäbe, ohne dass der Impuls von gläubigen Menschen gekommen wäre.
2. Dieser „Anmerkung“ über die „Königin des Friedens“ von Medjugorje ist ein anderes Dokument vorausgegangen, das das Dikasterium für die Glaubenslehre im Mai dieses Jahres veröffentlicht hat. Es befasst sich allgemein mit „Erscheinungen“. Der Anfang dieses Schreibens gibt das Grundprinzip an, auf das sich die Kirche stützt. Es sagt: „Gott ist gegenwärtig und handelt in unserer Geschichte. Der Heilige Geist, der dem Herzen des auferstandenen Christus entspringt, wirkt in der Kirche mit göttlicher Freiheit und gewährt uns viele kostbare Gaben, die uns auf unserem Lebensweg helfen und unser geistliches Reifen in Treue zum Evangelium fördern. Dieses Wirken des Heiligen Geistes schließt auch die Möglichkeit ein, unsere Herzen durch bestimmte übernatürliche Ereignisse zu erreichen, wie Erscheinungen oder Visionen von Christus oder der Heiligen Jungfrau und andere Phänomene.“ (Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene“ vom 17. Mai 2024, Nr. 1).
Die ganze Heilsgeschichte spricht genau davon: Gott ist nicht ein jenseitiges höheres Wesen, das die Welt ins Dasein gerufen hat und dann sozusagen tatenlos und ohne Interesse in einem fernen Jenseits verharrt. Er handelt in der Geschichte – das ist die Kernaussage des biblischen Glaubens. Er handelt in der Geschichte; er handelt durch und in der menschlichen Geschichte, durch Menschen. Ohne diesen biblischen Gottesglauben wäre alles Reden von Erscheinungen und von Offenbarung überhaupt spekulativ und sinnlos.
3. Im Dokument des Dikasteriums für die Glaubenslehre kommt dann ein wichtiger weiterer Schritt. Das Dikasterium maßt sich nicht an, über die Echtheit oder die Übernatürlichkeit der Botschaften von Medjugorje im Detail zu urteilen (Nr. 38). Der Text redet immer von „mutmaßlichen Botschaften“. Er urteilt auch nicht über die Personen, über die so genannten Seherinnen. Er konzentriert sich auf etwas anderes, auf das, was man die Früchte dieser Sache nennt. Auch das ist ganz biblisch und entspricht dem Wort Jesu: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ (Mt 7,16.20)
Im Text werden diese Früchte aufgezählt, diese Wirkungen: „Die vielen Bekehrungen, die häufige Rückkehr zu den Sakramenten, die zahlreichen Berufungen zum Priester- und Ordensleben, wie auch zur Ehe, die Vertiefung des Glaubensleben, ein intensiveres Gebetsleben, zahlreiche Versöhnungen“ (Nr. 3) und so weiter.
Und weiter sagt der Text, dass sich solche positiven Wirkungen nicht durch die Begegnung mit den Sehern eingestellt haben, sondern als Früchte der Pilgerfahrten und Wallfahrten. Viel wichtiger, als dass man dieser oder jener Person begegnet oder dieses oder jenes Phänomen gesehen hat, ist, dass man sich überhaupt auf den Weg gemacht hat, um etwas Neues zu sehen und zu hören.
Dazu gehört, dass Medjugorje, wie der Text sagt, kein individualistisches Phänomen ist. Es bringt Menschen zusammen und lässt sie die Kirche als eine konkrete und weltweite Gemeinschaft erleben.
Interessant ist auch eine Bemerkung, die den Charakter dieser Pilgerreisen angibt. Der Text beschreibt es so: „Im Gegensatz zu anderen Gebetsstätten, die im Zusammenhang mit Erscheinungen stehen, scheint es, dass die Menschen eher nach Medjugorje kommen, um ihren Glauben zu erneuern, nicht wegen konkreter Anliegen.“ (Nr. 4) „Für viele Menschen hat sich das Leben verändert“ (Nr. 5), so fasst der Text sehr prägnant zusammen, und weiter sagt er: „Viele andere haben die Schönheit des Christseins entdeckt.“ Medjugorje ist ein Ort der „Glaubenserneuerung“ (Nr. 5) geworden, nicht eines Spektakels, sondern einer Änderung des Lebens. Er ist nicht dazu da, dass Gott seine Pläne für mich ändert, sondern dass ich mein Leben ändern lasse. Das ist das Entscheidende.
In den „Botschaften“ selbst, so sagt der Text, gibt Maria dem, was von ihr gesagt wird, den richtigen Stellenwert. Aus der Botschaft vom 12. November 1982 wird zitiert: „Geht nicht auf die Suche nach außergewöhnlichen Dingen, sondern nehmt das Evangelium, lest es und alles wird euch klar werden.“ (Nr. 31)
Deswegen kann der Text das Geschehen von Medjugorje auch so zusammenfassen: „Maria hat nicht ihren eigenen Plan für die Welt und die Kirche. Folglich können diese Botschaften nur in diesem Sinne interpretiert werden: dass die Gottesmutter die Pläne Gottes vollständig annimmt, bis zu dem Punkt, dass ich sie als ihre eigenen ausdrückt.“ (Nr. 35)
4. Die Sprache des Textes des Dikasteriums für die Glaubenslehre bleibt nüchtern und konkret. Er übersieht nicht Schwächen und Gefährdungen, wenn man die Botschaften falsch versteht. Der Text des Dikasteriums redet aber nicht von oben herab, sondern er zitiert ausführlich aus den „Botschaften“ der vergangenen Jahre und stellt sie in einen inneren Zusammenhang. Manches wird kritisiert und infrage gestellt. Der größere Kontext erklärt manches, das auch schräg oder sogar in der Wortwahl definitiv falsch ist (Nr. 2); auch das gehört dazu. Insgesamt sieht die Note aber, dass die Botschaften von großem Wert sind. Sie wollen nichts Neues mitteilen, sondern das Evangelium zum Ausdruck bringen (Nr. 27).
Man kann Maria und die Botschaften nicht gegen die Kirche ausspielen. Das Dikasterium wird an dieser Stelle ganz konkret und hält fest, dass man die „Botschaften“ nicht an die Stelle des Pfarrers oder des Pastoralrates in einer Gemeinde stellen kann, wenn es um Entscheidungen geht, die Gegenstand gemeinschaftlicher Unterscheidungsprozesse sind, die man mit Klugheit, mit Zuhören und in der Achtung vor anderen und im Dialog finden muss (Nr. 29). Der gelebte Glaube ist immer eine Provokation für eine verwaltete Kirche, aber er sucht und bewahrt die Einheit der Kirche.
5. Zu dieser Nüchternheit gehört auch, dass in den „Botschaften“ immer wieder von Sünde und dem Bösen die Rede ist. Es geht nicht um Drohungen und Warnungen, sondern darum, die Realität in der Welt nicht zu übersehen. Wir sind als Glaubende nicht auf einem Spaziergang, sondern mit einem Auftrag in einer schwierigen Welt unterwegs. Der Friede ist deswegen ein zentrales Thema. Maria wird zwar als „Herrin" (Gospa), auch als Mutter angesprochen. Vor allem aber wird sie die „Königin des Friedens“ genannt.(
Das ist vielleicht eines der bemerkenswertesten Phänomene: Gerade im ehemaligen Jugoslawien und gerade am Ende des 20. Jahrhunderts ist dieser Titel wie eine Verheißung, wie eine Hoffnung, aber auch wie ein Weckruf: In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts löste sich Jugoslawien in einer Orgie von Gewalt und Terror auf. Auch der Ort Medjugorje und seine Umgebung waren während des Zweiten Weltkriegs und während des Bosnienkrieges von Massakern, Verwüstungen und sogenannten „ethnischen Säuberungen“ betroffen.
2014, fast 70 Jahre nach Ende des Krieges wurde die Ukraine überfallen, und bis heute sterben Menschen und werden Dörfer und Städte verwüstet, nur wenige hundert Kilometer von uns entfernt.
In wenigen Tagen jährt sich das Massaker der Hamas, die in Israel friedliche Menschen überfallen hat, junge Menschen auf einem Festival, Kleinkinder und alte Menschen ermordet, vergewaltigt, gefoltert und als Geiseln genommen hat bis auf den heutigen Tag, und so auch Tod und Leid über die Bevölkerung in Gaza gebracht hat.
Die Verehrung Marias als Königin des Friedens erinnert uns Christen vor allem daran, welchen Auftrag das Gottesvolk und darin die Kirche hat. Sie soll ein Werkzeug sein, „Sakrament des Heils“, wie das Konzil sagt, ein Werkzeug für den Frieden in der Welt. Diesen Dienst kann sie aber nicht ausüben, indem sie nur Friedenspapiere und Appelle veröffentlicht. Das Entscheidende ist, dass sie durch ihre Existenz zeigt, dass Frieden zwischen unterschiedlichen Menschen möglich ist. Es ist eine Tragik der Geschichte, dass die Spaltungen der Kirche auch zur Spaltung zwischen den Völkern und Menschen geführt haben.
Die frühen Christen waren in den ersten Jahrhunderten überzeugende Beispiele dadurch, dass sie überall, rund um das Mittelmeer, ein Netz von Gemeinden spannten, von Griechen, Römern, Juden, später Germanen und Franken, Sklaven und Freien, Männern und Frauen und so eine andere Art von Frieden zeigten, eines Friedens, der nicht in Macht und Unterwerfung bestand, sondern in Freiheit und Solidarität. Darüber hat die antike Welt gestaunt.
Das jüdische Volk hat verstanden, dass es diese Aufgabe hat und mit ihm haben es auch die ersten Christen verstanden. Im Bild der Völkerwallfahrt zum Berg Zion, wie es die Propheten Jesaja und Micha zeichnen (Jes 2; Mich 4), wird diese Vision verdichtet: Die Völker kommen nach Jerusalem, weil sie dort die friedensstiftende Wirkung der Tora, des Gesetzes Gottes sehen und lernen können. Maria, die jüdische Miriam aus Nazareth, ist nicht nur die Mutter Gottes, sie ist auch Repräsentantin und Bild dieses Gottesvolkes, dass der Welt diese Hilfe schuldet. Maria kann man, wie ein bekannter Buchtitel sagt, „nicht ohne Israel“ verstehen. Ohne dass man die Aufgabe sieht, die von Gott her auf dem jüdischen Volk liegt und deswegen auch auf der Kirche, wäre die Verehrung der „Königin des Friedens“ eine im Wortsinn grund-lose Variante unseres Glaubens.
Das Dokument des Dikasteriums für die Glaubenslehre wäre eine gute Gelegenheit gewesen, diese viel größere Dimension zu sehen. Mir scheint, dass wir diesen Aspekt der Verehrung Marias als „Königin des Friedens“ erst noch entdecken und lernen müssen. Dann wird die Botschaft dieses Wallfahrtsortes noch mehr im Zentrum der Kirche verankert sein und noch mehr dazu beitragen können, den Auftrag der Kirche zu verwirklichen. Gott handelt in der Geschichte, das ist unser Glaube. Darauf setzen wir, das ist auch der Grund für unsere Dankbarkeit.
Mittwoch der 25. Woche im Jahreskreis II | Burladingen St. Fidelis, 25. September 2024 | Prof. Dr. Achim Buckenmaier