Des Glaubens liebstes (und problematisches) Kind

23. Sonntag im Jahreskreis B - Homilie:

Im Zentrum der biblischen Texte dieses Sonntages steht ein Wunder: ein Mensch, der taub ist, der gar nichts hören kann und der deswegen auch nicht sprechen gelernt hat, dem werden durch die Begegnung mit Jesus die Ohren aufgetan, und seine Zunge löst sich, sodass er richtig reden kann. Das ist wirklich ein Wunder, etwas absolut Erstaunliches.

„Das Wunder ist es, Glaubens liebstes Kind“, sagt Goethe.

Wenn überall solche Wunder geschehen würden, wie am See von Genezareth, wie sie im Evangelium erzählt wird, dann würden die Menschen an Gott glauben – so denkt man. 

Wenn in den Krankenhäusern und Altenheimen, die Lahmen und Behinderten, die Bettlägrigen und Querschnittsgelähmten aus den Rollstühlen und Pflegebetten springen würden, dann hätte es Gott einfach – so könnte man meinen. 

Aber die Wunder sind nicht nur die liebsten Kinder des Glaubens, sie sind auch Hindernisse auf dem Weg zum Glauben. Viele Menschen können mit diesen Geschichten aus der Heiligen Schrift, aus der Bibel nichts mehr anfangen. Warum, wenn es Gott gibt, hat er die Naturgesetze erschaffen, und warum bricht er sie dann, greift willkürlich ein, unerklärlicherweise? Und warum passiert das nur bei so wenigen? Und nur so selten? Viele Menschen halten deswegen den christlichen Wunderglauben für eine Scharlatanerie, einen Betrug, eine Vorgaukelei.

Wie aber ist es wirklich? 

Wenn man in das Evangelium hineinschaut, sieht man, dass am Ende der wichtigste Satz steht. Die Menschen staunen und sie sagen: „Er, Jesus, hat alles gut gemacht.“ Dieser Satz wiederholt das, was am Anfang der Bibel in jedem Satz der Schöpfungsgeschichte gesagt wird, am Ende eines jeden Schöpfungstages. Da heißt es, Gott sah, was er gemacht hat, und es war gut.

Das Ziel der Wunder ist also nicht, dass ein einzelner Mensch, der zufällig zur Zeit Jesu lebte und zufällig dort am See sich aufhielt, dass der wunderbarerweise hören und sehen kann. Das Ziel ist, dass Menschen zu der Erkenntnis kommen: Gott hat die Welt erschaffen. Er ist der Herr der Welt. Er hat alles gut gemacht. 

Wunder in der Bibel sind nicht willkürlich gewirkte Mirakel, keine Schauspiele und Spektakel für sensationslüsterne Menschen, um Jesus interessant zu machen. Wunder bedeuten auch nicht die Aufhebung von Naturgesetzen, sondern sie bedeuten die Aufhebung der Gesetze und der Grenzen, die der Unglaube setzt.

In der ersten Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja wird es sehr schön gezeigt. Da geht es gar nicht um einen einzelnen Menschen, sondern um Israel, um das Gottesvolk  als solches und um die Welt als Ganzes.

Vier Behinderungen von Menschen werden erwähnt: Blindheit, Taubheit, Lähmung und Sprachstörungen, das heißt die Unfähigkeit, sich mitzuteilen. Und ebenso werden vier Verwundungen der Natur aufgezählt: dass fruchtbares Land zur Wüste wird. Dass sich überall Steppe ausbreitet, dass es statt fruchtbarer Erde nur noch glühenden Sand gibt, dass das Land verdorrt und trocken wird.  Der Prophet zeigt, dass er die Welt und die Menschen sehr gut kennt, ihre Verletzungen und ihre Verwundungen und ihre Nöte. Und er hat eine große Zuversicht. Wenn der Mensch sich nicht fürchtet, vor Gott, dann kann Gott heilen und die Welt wieder so herstellen, wie sie gewollt hat am Anfang. „Habt Mut, fürchtet euch nicht!“

Deswegen hat die Liturgie auch diese zweite Lesung dazugenommen aus dem Jakobusbrief. Ein ganz anderes Genre, eine ganz andere Zeit, aber im Grunde dieselbe Botschaft. 

Der Jakobusbrief erzählt, wie es in einer Gemeinde zugeht und auch er ist er nüchtern. Auch in der Gemeinde der Jünger Jesu, die er da im Blick hat, geht es zu wie überall in der Gesellschaft. Ein Reicher, ein Wohlhabender kommt in die Versammlung der Gemeinde, vielleicht zum Gottesdienst, und er wird hofiert, es wird ihm gleich ein Stuhl in der ersten Reihe angeboten. Der Arme, der bleibt unbeachtet, er muss stehen, vielleicht hinten oder auf dem Boden sitzen.

Eine solche Situation zeigt einen Krankheitszustand, eine Blindheit der ganzen Gemeinde. Die Gemeinde ist krank und behindert. So etwas geschieht immer wieder in der Kirche, unter uns. Es gibt die Macher, die Selbstbewussten und Kommunikativen, die schnell wichtig sind und das Ruder in Gemeinschaften und Pfarreien wie selbstverständlich in den Händen halten, über Jahre hinweg. Und es gibt die Stillen, die kaum etwas sagen, die unsicher sind, die vielleicht irgendeinen Macken haben, einen dunklen Fleck in ihrem Leben. Die einen werden gehört, die anderen überhört, die einen sind immer angesehen, die anderen übersehen.

Aber in der Gemeinde, an die Jakobus schreibt, passiert dann etwas von der Qualität der Tage Jesu, es geschieht dasselbe wie in den Tagen Jesu: die Versammlung der Gemeinde wird an die Nähe Gottes erinnert. Hat Gott nicht die Armen erwählt? Hat er nicht denen eine königliche Existenz verheißen, die ihn lieben, egal, ob sie reich oder arm sind, viel oder wenig haben?

Mit diesen Sätzen, die vielleicht jemand ausgesprochen hat oder der Gemeinde aufgeschrieben hat, wird sie daran erinnert, dass dieses Unterscheiden, dieses Ranking krank macht, die Kirche krank macht und auch die Menschen krank macht und dass man sie überwinden kann und muss.

Das eigentliche Wunder, das größte Wunder ist immer, dass Menschen an die Nähe Gottes glauben, dass Menschen sich vor Gott nicht fürchten, sondern auf ihn ihr Leben setzen. Dann kann sich vieles ändern. Dann kann jemand gesünder sein mit zwei gelähmten Beinen als einer, der gut laufen kann. Wenn Menschen Gott glauben und einander so als Brüder und Schwestern annehmen, dann muss eine Krankheit, ein Rollstuhl oder ein Rollator kein Hindernis sein, dass man heil ist und an der Gemeinde teilhaben kann. Nicht an Gott liegt es, ob solche Wunder geschehen. Es liegt an uns, ob wir sie zulassen.

Über uns alle ist einmal dieses Wort gesagt worden, das heute im Evangelium dem Taubstummen gesagt wird. Jeder von uns hat einmal als kleines Kind schon dieses hebräische Wort gehört, ein bisschen Hebräisch gelernt, als der Priester in der Taufe gesagt hat: „Effata!“, tue dich auf, öffne dich.

Das Hauptwort und der Schlüssel dazu ist: „Fürchtet euch nicht!“ Lass dich ansprechen, von der Nähe und Realität Gottes anrühren und öffnen. Dann kann Gott unsere Ohren und unsere Zunge berühren, dann kann Jesus seine Wunder überall tun, dann hat seine Geschichte nicht nur eine große und wunderbare Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft, die die Menschen und unsere Welt heilt, wiederherstellt, so wie Gott sie will.

23. Sonntag im Jahreskreis B, 8. September 2024 | Hechingen St. Luzen; Stetten u. Holstein St. Silvester  |  Lesungen: Jes 35, 4-7a; Jak 2,1-5; Evangelium: Mk, 7,31-37  |  Achim Buckenmaier