Warum sollte man sich über Gesetze Gottes freuen?

22. Sonntag im Jahreskreis B - Homilie:

Bibelstellen können Menschen trösten und erfreuen. Der eine kennt vielleicht noch eine besonders schöne Stelle aus der Bibel. Für den anderen ist ein bestimmtes Gleichnis oder eine Erzählung Jesu eine Lieblingsstelle. Bibelstellen können aber auch missverstanden werden und Missverständnisse erzeugen.

So ist es zum Beispiel mit dem Evangelium des heutigen Sonntags, mit dieser Kritik Jesu an einer rein äußerlichen Gesetzesfrömmigkeit, einem oberflächlichen Gehorsam gegenüber den biblischen Geboten und Verboten.

Das Evangelium dieses Sonntags hat geradezu eine ganze Spur von Missverständnissen erzeugt und hinter sich gelassen. Da ist der erste Fehlschluss, den man aus den Worten Jesu ziehen kann, dass es auf das Äußere nicht ankäme, das nur das Innere zähle, die Einstellung, die gute Absicht, die innere Haltung und das alles andere nur äußerlich und unwichtig und mitunter sogar auch falsch sein kann. Wenn man das Evangelium genau hört, dann merkt man: Davon ist nirgends die Rede. Was Jesus kritisiert ist, wenn die die Haltung gegenüber den Geboten Gottes nicht ehrlich ist. Wenn man auswählt: Auf der einen Seite pocht man auf die Gebote, auf der anderen Seite übertritt man sie und hält sie nicht, je nachdem, wie es gerade passt.

Das zweite Missverständnis, das mit diesem Text verbunden ist, hatte in der Geschichte der Kirche noch viel gravierendere Folgen. Es war die gefährliche Interpretation, dass sich Jesus vom Judentum und von den jüdischen Geboten, von den Geboten überhaupt, und dem Alten Testament distanziert habe.

Auch hier gilt: wenn man genau hinhört, dann wird klar: Jesus lehnt die Gebote gar nicht ab. Er will sie nur genau verstehen und dass die Menschen diese Gebote halten können. Jesus ist ja selbst Jude, und er hat sich immer nach den Gebote Gottes ausgerichtet.

Und er war nicht der erste, der kritisiert hat, dass man zwar mit den Worten die Gebote festhält, aber mit den Taten nicht erfüllt und einlöst und verwirklicht. Deswegen zitiert er den Propheten Jesaja, der schon sechs Jahrhunderte vor Jesus Israel scharf kritisiert hatte: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir.“

Das Herz ist eben die Mitte des Menschen. Es ist nicht reines Gefühl, sondern der Ort, an dem der Mensch seine Grundsatz Entscheidungen fällt, die sein Handeln bestimmen. Das Auseinanderklaffen von Worten und Taten haben schon die Propheten kritisiert.

In der Geschichte der Kirche hat dieses Missverständnis immer wieder zu einer falschen Darstellung des Judentums geführt, zu einer Diffamierung der jüdischen Lebensweise, der jüdischen Religion und ihre Gesetze. Das hat tiefe Spuren bei den Christen hinterlassen und wirkt in manchen Köpfen bis heute nach.

Adolf von Harnack, einer der bedeutendsten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts hat diesen Vorwurf einer äußerlichen Gesetzesreligion gegen das Judentum auf die Spitze getrieben und seinen Schülern und damit vielen Christen beigebracht, Jesus habe sich von seinem Judentum distanziert, habe es verlassen, um eine neue Freiheit zu lehren.

Es ist deswegen wirklich gut, dass die Liturgie neben dieses Evangelium die erste Lesung aus dem Buch Deuteronomium gestellt hat, die Worte des Mose, der Israel, die Gesetze und Rechtsvorschriften Gottes verkündet. 

Mose ist ganz zuversichtlich: Wenn Israel eine Gesellschaft bildet, die sich nach diesen Geboten richtet und an den Sätzen Gottes ihr Maß nimmt, dann werden die anderen Völker die Vernünftigkeit und Kostbarkeit diese Regeln sehen und nachahmen wollen.

Das jüdische Volk selbst hat immer wieder diese Kostbarkeit entdeckt, auch wenn es kaum allen Gesetzen folgen konnte. Es gibt bis heute ein eigenes Fest, einen eigenen Festtag für die Tora, für das Gesetz und die Gebote Gottes. Jedes Jahr im Herbst wird dieses Fest gefeiert. Es heißt: Simchat Tora. Gesetzesfreude, die Freude über das Gesetz. Dieses Jahr fällt es auf den 25. Oktober. 

Es ist vielleicht das erstaunlichste religiöse Fest im jüdischen Kalender. Es ist so anders als unsere Empfindung. Wir denken: Die Gebote Gottes, die Zehn Gebote und die Gebote der Kirche schränken unser Leben ein, sie limitieren unsere Freiheit, sie begrenzen das, was wir machen können und wollen mit ihren Vorschriften und Verboten.

Die Juden haben das auch gesehen und deswegen sind die Gebote ganz knapp formuliert. Es geht immer darum: Du sollst das eine tun, und das andere darfst du nicht. So einfach sind sie formuliert.

Das jüdische Volk hat erkannt, dass genau das die größte Hilfe ist, dass die Schwachen geschützt und die Wehrlosen nicht den Brutalen ausgeliefert sind, dass die Wahrheit nicht beliebig ist, dass die Starken, Frechen und immer Schnelleren einfach begrenzt werden müssen in ihren Möglichkeiten, dass sie nicht alles machen dürfen, was sie können, und dass genau das eine Gesellschaft, die sich solche Regeln gibt, humaner, menschlicher und friedlicher macht, dass dies ein Grund zur Freude ist. Deswegen gibt es dieses Fest Gesetzesfreude.

Und noch ein Zweites kommt hinzu: aus den Zehn Geboten haben sich neue und weitere, detaillierte Gesetze und Vorschriften ergeben. Auch das kommt im heutigen Evangelium vor, wenn der Evangelist Markus die jüdischen Gesetze aufzählt, die um das Essen herum entstanden sind: und wenn die Juden vom Markt kommen, essen sie nicht, ohne sich vorher zu waschen. Noch viele andere überlieferte Vorschriften halten Sie ein wie das abspülen von Bechern, Krügen und Kesseln.

Wenn man an die zurückliegende Zeit der Pandemie denkt, dann sieht man leicht, wie fortschrittlich das jüdische Volk war, zu einer Zeit, in der ansteckende Krankheiten und Seuchen als Gottesstrafen hingenommen wurden. Sie haben verstanden: Vieles ist in unsere Hand gelegt, in unsere Verantwortung. Dass man sich die Hände wäscht und das Geschirr abspülte, war im Orient so offensichtlich lebensrettend. Und wenn wir auf die Monate mit dem Coronavirus schauen, sehen wir das ist doch: Auch für uns ist es einsichtig, fundamental einfach und wichtig. Diese Vorschriften waren nichts anderes als eine Anwendung, eine Ausführungsbestimmung für das Gebot: Du sollst nicht töten.

„Was aus dem Menschen herauskommt, macht ihn unrein“, sagt Jesus. Das bedeutet: Das, wofür sich der Mensch entscheidet, in seinem Inneren, im Herzen, das hat Konsequenzen. Ob er verantwortungsvoll lebt oder verantwortungslos, ob er durch sein Verhalten, durch seine Nachlässigkeit, den anderen in Gefahr bringt oder nicht?

Tatsächlich gibt es auch in der Kirche diese Tendenz, Gebote, Verbote, Gesetze und Kirchenrecht zu diffamieren, als menschliche Satzung abzutun, die man so oder so ändern könnte. Sicher ist vieles zeitbedingt und veränderbar. 

Aber hinter den großen kirchlichen Nöten der letzten Jahrzehnte, den Missbrauchsskandalen und der Vertuschung durch die Bischöfe und viele andere, stand ja auch diese selbstherrliche Freiheit, dass man einfach alles machen kann und dass man persönlich entscheidet, was recht ist und was nicht recht ist, und dass man die die ethischen Grenzen und noch mehr die Gesetze der Kirche einfach interpretiert, wie man will. Nicht nur die eigentlichen Täter, auch die Verantwortlichen haben die Gesetze, auch das Kirchenrecht, für etwas Äußerliches gehalten, das man nicht so ernst nehmen müsse.

Das könnte man aus dieser Geschichte lernen und natürlich vor allem aus dem Evangelium von heute und der Lesung. Vielleicht bräuchten wir auch so ein Fest wie Simchat Tora, Freude über die Tora, Dankbarkeit für die Gebote Gottes, dafür, dass wir diese Geschichte kennen und nicht den Stärkeren oder auch uns selber ausgeliefert sind.

22. Sonntag im Jahreskreis B, 1. September 2024 | Stein St. Markus; Jungingen St. Silvester  |  Lesungen: Dtn 4,1-2.6-8; Jak 1,17-18.21b-22.27; Evangelium: Mk 7,1-8.14-15.21-23  |  Achim Buckenmaier